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nmz 2004/09 | Seite 1
53. Jahrgang | September
Leitartikel
Europas stärkster Reit-Stier ist die Kultur
Das vereinigte Europa – bislang eine sehr begrenzte Erfolgsgeschichte
· Von Max Fuchs
Die Zahlen beeindrucken durchaus: 25 Staaten; 450 Millionen Einwohner;
wirtschaftliche Kennziffern, die das Zahlenvermögen des Durchschnittsmenschen
locker sprengen. Auch scheint der Entwurf für eine Verfassung
auf gutem Wege zu sein, in der die Menschen- und Bürgerrechte
vorbildlich festgeschrieben sind.
Es ist unbestritten, dass ein über Jahrhunderte angestrebtes
Ziel, ein geeintes Europa – zumal: ein in Frieden geeintes
Europa – Realität geworden ist. Doch warum will so richtig
keine Freude aufkommen? Jenseits der zur Euphorie verpflichteten
Politik, die im Lob des geeinten Europas recht stark ein Lob für
die eigene Politik zu sehen suggeriert, ist eine Europa-Begeisterung
in der Bevölkerung kaum anzutreffen. Wer etwas anderes gehofft
hat, den dürfte die magere Wahlbeteiligung bei den letzten
Europawahlen ernüchtert haben. Hand aufs Herz: Wer kennt schon
seinen Europa-Abgeordneten? Fast alle Parteien haben ihre nationalen
Politik-Helden in den Europawahlkampf geschickt. Die Prüfsteine
des Deutschen Kulturrates wurden eher lustlos (wenn überhaupt)
beantwortet. So traurig all dies ist: wen wundert es wirklich?
Denn wer interessiert sich schon für ein Parlament, das die
meisten entscheidenden Rechte, die ein nationales Parlament hat,
eben nicht hat? Ein gutes Beispiel ist die Personalentscheidung
darüber, wer neuer Kommissions-Präsident werden soll.
Man hörte viel davon, wie Schröder oder Chirac mauschelten,
man hörte Namen auftauchen und wieder verschwinden. Nur hörte
man nie, dass das Europa-Parlament etwas mitzubestimmen hätte.
Auch in der neuen Verfassung, die einen durchaus respektablen
Grundrechtekatalog enthält, bleibt die Differenz zu einem regulären
Parlament recht groß: Die Macht sitzt vornehmlich bei der
Exekutive. In Europa entscheidet auch zukünftig die Kommission,
und was diese nicht entscheidet, entscheiden die „Räte“
der nationalen Regierungschefs oder der Fachminister. Erst dann
gibt es – vielleicht – ein Anhörungsrecht des Parlaments.
Kenner wissen, dass es bei der Europäischen Union ein mehrfaches
Defizit gibt: Ein Demokratie-Defizit, so wie es oben angedeutet
wurde, aber auch ein Defizit in Sachen europäische Identität
und ein Defizit an einer genuin europäischen Öffentlichkeit.
Das Fatale an dieser Situation ist, dass alle drei Struktur-Defizite
sich untereinander verstärken.
Diesen gordischen Knoten könnte vielleicht eine wahrhaft
demokratische Verfassung durchschlagen. „Demokratisch“
hieße dabei, dass die Bevölkerung die meisten Entscheidungen
unmittelbar selbst treffen müsste. Dies bedeutete insbesondere,
dass es nicht zu viele Vermittlungs-Instanzen oder Puffer-Zonen
zwischen dem artikulierten Willen der Bevölkerung und den letztlich
beschlossenen Gesetzen geben dürfte. Dazu müsste allerdings
die Bevölkerung auch häufiger gefragt werden. Es gibt
dagegen in vielen entwickelten Demokratien einen fatalen Trend dazu,
die Bevölkerung nicht zu häufig mit Entscheidungen zu
belasten. Diesem Trend folgt auch der zur Zeit vorliegende Entwurf
einer europäischen Verfassung.
Es gibt allerdings auch keine europäische Öffentlichkeit,
in der diese Frage diskutiert wird. Es wird daher bei dem bisher
vorliegenden Konstrukt bleiben, bei dem sehr stark die ursprüngliche
Regelungslogik der europäischen Integration, nämlich die
Aushandlungsmodelle in der Wirtschaftspolitik, erkennbar sind. Insbesondere
ist diese Handlungslogik dadurch gekennzeichnet, dass Spezialisten
gerne unter sich bleiben. Wer dies nicht glaubt, versuche einmal,
präzisere Informationen über den aktuellen Diskussionsstand
über das GATS-Abkommen zu erhalten.
Eine Rettung gäbe es allerdings vielleicht. Und diese liegt
in einer integrierten Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik. „Jugend“
deshalb, weil hier die Neugierde auf andere am größten
ist. „Bildung“ deshalb, weil die Begegnung mit dem Fremden
nicht so einfach ist, wie es eine Europa-Rhetorik oft suggeriert.
Und „Kultur“ deshalb, weil sie die Herzen der Menschen
berühren kann.
Eine europäische Kulturpolitik wäre eine Politik der
Begegnung, wäre eine Politik, die Freude an kultureller Vielfalt
erzeugt. Kulturelle Vielfalt drückt sich in den Künsten
aus. Sie ist aber auch an der erstaunlichen Vielzahl von Lebensmodellen
abzulesen, in denen die Menschen ihr Glück auf Erden realisieren
wollen.
Die europäischen Regierungschefs haben zwar in Lissabon vereinbart,
Europa zum stärksten, wissensbasierten Wirtschaftsraum in der
Welt zu machen. Aber wollen das die Menschen wirklich – und
was haben sie davon? Wenn dies bedeutet, dass die Zahl der Millionäre
und Milliardäre steigt, dass die Schere zwischen Arm und Reich
aber weiter auseinander geht, dann bewegt dieses schwungvolle Ziel
zurecht keinen Menschen, es sei denn, er gehört selbst zu den
Millionären. Wie weit muss man von der Lebensrealität
der Bürger entfernt sein, um nicht mehr zu wissen, dass es
um ganz andere Werte und Ziele geht als um eine größenwahnsinnige
Tonnen-Ideologie. Wo sind die Visionen für das „europäische
Sozialmodell“? Wo bleiben die Vorstellungen einer Kultur des
Friedens?
Die Kulturpolitik könnte hierbei helfen. Das Problem ist,
dass eine solche Politik offenbar die Veränderung der bisherigen
Wirtschaftsmentalität, eine Veränderung des Denkens in
Kategorien des Gewinns, der Zahlen und des bloß materiellen
Erfolgs zur Voraussetzung hat. Wer also ein kulturelles Europa will,
sollte nicht auf die offizielle Politik warten. Vermutlich wäre
es auch noch nicht einmal falsch, wenn ein solches Europa von unten
aufgebaut werden würde. Fangen wir damit an.