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nmz 2004/09 | Seite 3
53. Jahrgang | September
Magazin
Tschechien heißt Europa mit Musik willkommen
Im Beitrittsjahr zur EU feiert unser östlicher Nachbar das
„Jahr der Tschechischen Musik 2004“
Im Mai dieses Jahres ist Europa um zehn Länder reicher geworden.
Was bringen die ost- und mitteleuropäischen Länder als
Mitgift ins „alte Europa“ ein? In einem Interview wurde
diese Frage kürzlich dem Schriftsteller Günther Grass
gestellt. Die spontane Antwort: „Zuerst einmal ihre eigene
Kultur. Sie werden uns lehren – höflich wie es dort üblich
ist, aber doch sehr deutlich – dass die Mitte Europas nicht
in Paris, sondern in Prag liegt“.
Der Prunk des vergangenen
Jahrtausends gepflegt im neuen Europa: Innenansicht der
Prager Oper. Foto: Oper Prag
Besonders die Musik Tschechiens steht in diesem Jahr im kulturellen
Mittelpunkt Europas: 2004 ist das Jahr der Tschechischen Musik.
Nicht zum ersten Mal begeht das drittgrößte Beitrittsland
mit seinen zehn Millionen Einwohnern ein solches Jahr. Immer, wenn
eine Jahreszahl auf vier endet, kann Tschechien der Geburts- und
Todestage seiner Komponisten und Musiker gedenken. Die Musik-Jahre
1974 und 1984 waren in der damaligen Tschechoslowakei noch stark
ideologisch geprägt, so wurde die Existenz der slowakischen
Musik außen vor gelassen oder Musiker aus jüdischem und
deutschem Umfeld tauchten in der Programmgestaltung nicht auf. Heute
wird in Tschechien Musikgeschichte realistischer gesehen. Musiker
mit verschiedenen kulturellen Identitäten gehören ebenso
dazu wie die der „nationalen“ Musikschulen. Und so steht
das Musikjahr 2004 auch unter einem besonderen Motto: „Tschechische
Musik 2004 – ein untrennbarer Bestandteil der europäischen
Kultur“. Im Koordinierungszentrum in Prag wurde das reichhaltige
Programm geplant und zusammengeführt. Beteiligt sind daran
nicht nur die führenden Kulturinstitutionen, wie die Staatsoper,
das Nationaltheater oder das Nationalmuseum, sondern auch zahlreiche
kleinere Projekte des gesamten Landes, die finanziell und organisatorisch
unterstützt werden. So sind nicht nur die Highlights der tschechischen
Musikszene eingebunden, sondern die gesamte Vielfalt der tschechischen
Musik steht auf dem Programm. Die Geldsumme, die das tschechische
Kulturministerium dafür zur Verfügung stellte, beträgt
105 Millionen Kronen (circa drei Millionen Euro).
Allein auf 60 Musik-Jubiläen, die in Fünfjahresschritten
gezählt werden, kann Tschechien in diesem Jahr verweisen. Es
wäre vermessen, hier alle aufzuzählen, gesagt sei nur,
dass in der umfangreichen Liste nicht nur Dvorak (100. Todestag),
Smetana (180. Geburts- und 120. Todestag) und Martinu (45. Todestag)
aufgezählt sind, sondern dass auch Institutionen wie das Nationaltheater
in Brno (120. Gründungstag), das Musikinformationszentrum (40.
Gründungstag), das Prager Symphonieorchester FOK (70. Gründungstag)
oder das Philharmonische Orchester Janácek (50. Gründungstag)
zu finden sind. Über 700 Veranstaltungen sind geplant oder
bereits realisiert, und sie finden nicht nur in den eigenen Landesgrenzen
statt. Der Tradition seiner weltoffenen Musiker und Komponisten
verpflichtet, will Tschechien seine Musik auch im Ausland präsentieren:
Im Juni wurde der ausländische Teil des Programms mit dem klangvollen
Namen „Tschechische Träume“ eröffnet und zunächst
in 13 tschechischen Städten vorgestellt. Seit Juli sind in
zahlreichen europäischen Ländern, der USA und Kanada noch
bis zum Ende des Jahres tschechische Künstler in etwa 80 Opernaufführungen
und 70 Konzerten zu erleben. In 15 deutschen Städten ist die
Reihe „Tschechische Träume“ mit kammermusikalischen
Aufführungen vertreten. Aber was sind schon Zahlen? Dahinter
steht die durch Ideale und Hoffnungen geprägte Landesgeschichte,
die eine reiche tschechische Musiktradition hervorbrachte. Seit
1526, seit der Vereinnahmung Böhmens und Mährens durch
die Habsburger standen die ehemaligen Tschechischen Kronländer
unter dem Einfluss und der Verwaltung Österreich-Ungarns, Mährisch-Schlesien
wurde zeitweise durch Preußen regiert. Die Entwicklung der
Kultur war gezwungenermaßen fremd beeinflusst, Amtssprache
war deutsch und das Nationalbewusstsein wurde immer auf kleiner
Flamme gehalten. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
konnten die Tschechen durch die Nationalbewegung und die Revolution
1848/49 ein nationales Selbstvertrauen erlangen. Das machte sich
auch in der Musik bemerkbar. Die „nationale Wiedergeburt“
äußerte sich hier am markantesten im Bereich der Oper.
Verständlicherweise konnten tschechische Komponisten die österreichisch-ungarische
Vorherrschaft nicht direkt in ihren Kompositionen thematisieren.
Das verbot die strenge Zensur des metternichschen Systems. Die sagenumwobene
Zeit des Mittelalters hatte in der Musik Hochkonjunktur. Die Przemysliden
(13. Jahrhundert) unter Ottokar I. oder die Zeit Karls IV. (14.
Jahrhundert), der von Böhmen aus das Heilige Römische
Reich regierte und dem Land zu einer wahren Blütezeit verhalf,
sollten das Nationalbewusstsein der unterdrückten Tschechen
aufleben lassen.
Die großen Nationalopern entstanden, Smetanas „Brandenburger
in Böhmen“ oder seine Festoper „Libussa“.
Sie sollte auch erklingen, als 1881 das Nationaltheater eingeweiht
wurde. Die Hauptfigur dieser Oper ist die sagenumwobene Gründerin
Prags, ein gekonnter Schachzug zur Einweihung eines solchen Hauses.
Private Spendengelder ermöglichten den Theaterneubau, doch
sollte er durch einen verheerenden Brand nur einen Monat nach der
Eröffnung fast völlig zerstört werden.
Und wieder war es der Bürgersinn der Tschechen, der ein zweites
Opernhaus entstehen ließ. Als das neu errichtete und noch
prächtigere Opernhaus im Stil der Neo-Renaissance am 18. November
1883 eingeweiht wurde, stand wieder „Libussa“ auf dem
Spielplan.
In den folgenden über 100 Jahren sollte das tschechische Volk
immer wieder Diktatoren und Fremdherrschern ausgesetzt sein. Eine
Atempause brachte das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie,
in dessen Folge sich 1918 die erste Tschechoslowakische Republik
gründete. Sie wurde bereits 20 Jahre später durch das
unselige Münchner Abkommen zerschlagen.
Immer wieder artikulierten sich Intellektuelle und Künstler,
um dem Freiheitsdrang und der Heimatverbundenheit des tschechischen
Volkes eine Stimme zu geben. Sei es während des Prager Frühlings
im Jahr 1968 oder der (so poetisch klingenden) „Samtenen Revolution“
1989.
Was bringt die Tschechische Republik nun ins europäische
Gefüge ein? Stellvertretend für die beiden Charaktereigenschaften
der Tschechen seien zwei ihrer berühmtesten Komponisten genannt.
Antonin Dvorák, der weltmännische, der buchstäblich
bis in die neue Welt vorgedrungen ist. Und Leos Janácek,
der bescheidene, in sich gekehrte, der seiner mährischen Heimat
und der Natur eng verbunden war. Beide Eigenschaften werden in einem
vereinten Europa gebraucht und wenn sich Tschechien auf seine Tradition
besinnt, wird es einen aktiven und interessanten Teil des Europa-Konzerts
mit aufbauen können.
Barbara Lieberwirth
Zahlen und Fakten zum Musikleben der Tschechischen
Republik
Erstellt von Lenka Dohnalova, Koordinatorin Tschechisches Jahr der
Musik 2004, Prag
1. Musikalische Bildung und Ausbildung
a) Erste Stufe (entspricht in Deutschland: Musikschulen)
470 künstlerische Grundschulen mit 525 Filialen, das heißt
895 Schulen mit Akkreditierung. An diesen Schulen studieren etwa
220.000 Schüler in vier Fächern: Musik (144.000), Tanz
(25.000), Bildende Kunst (45.000) und Literatur-Drama (8.000).
Besucht werden die Schulen von Schülern zwischen 6 und 15
Jahren (erster Zyklus), 16 bis 23 Jahren (zweiter Zyklus). Heute
können auch Erwachsene Kurse absolvieren. Ziel der Ausbildung
ist die Berufskarriere, aber auch die Ausbildung von Amateuren.
b) Zweite Stufe (entspricht in Deutschland: Gymnasien mit
musischem Profil):
Staatliche Konservatorien (mit Matura)
13 Konservatorien, davon 10 musikalische (Praha, Teplice, Plzen,
Ceske Budejovice, Pardubice, Kromeriz, Ostrava, Brno)
Private Konservatorien (nur Tanz)
Kirchliche Konservatorien (Opava)
Militär. Konservatorien (Roudnice nad Labem)
Insgesamt von 3.400 Schülern besucht, davon 2.000 Schülerinnen.
c) Dritte Stufe (entspricht in Deutschland: Musikhochschulen)
Drei Akademien (Prag HAMU, FAMU, Brno HAMU)
Zwölf Universitäre Lehrstühle mit Ausrichtung auf
Musikpädagogik oder Musikwissenschaften
(Praha, Brno, Ostrava, Plzen, Hradec Kralove, Ceske Budejovice,
Olomouc, Usti nad Labem, Karlovy Vary) (gemäß Angaben
von Dr. Kloub vom Ministerium für Schulwesen, Jugend und
Sport)
2. Fördermaßnahmen
a) Wettbewerbe im Fach Interpretation ernster Musik: um
die 45
Davon die bedeutendsten: Internationaler Musikwettbewerb Prager
Frühling (Prazske jaro), Concertino Praga, Interpretationswettbewerb
B. Martinu (Bestandteil des Festivals B. Martinu), Heran-Violoncellowettbewerb
in Usti nad Orlici, Kocian-Geigenwettbewerb in Usti nad Orlici,
Beethovens Hradec in Hradec Kralove, Internationaler Wettbewerb
Carl Czerny Prag, Internationaler A. Dvorak-Gesangswettbewerb
in Karlovy Vary, Internationaler Smetana-Klavierwettbewerb in
Plzen, Talentinum Zlin, Praga cantat – Chorwettbewerb, Virtuosi
per musica di pianoforte Usti nad Labem, Internationaler F. Chopin
Klavierwettbewerb in Marianske Lazne
Das Schulministerium unterstützt:
Wettbewerbe für künstlerische Grundschulen und Konservatorien,
Internationaler Wettbewerb in Usti nad Labem, Kocian-Wettbewerb
in Usti nad Orlici.
b) Wettbewerbe im Fach Folklore:
Etwa zehn
c) In anderen Fächern (Country, Folk):
Etwa 13
d) Komposition:
Der bedeutendste internationale Wettbewerb elektroakustischer
„Musik Musica nova“, der republikweite Kompositionswettbewerb
„Generace“.
3. Forschung und Dokumentation
a) Archive
Archive der Theater, der Musikabteilungen von staatlichen, regionalen,
Bezirks- und Ortsmuseen, Schulen, historischen Objekten.
Die bedeutendsten:
Archiv des Nationaltheaters
Archiv des Nationalmuseums (Tschechische Musikmuseen B. Smetana-Museum
und A. Dvorak-Museum, A. Dvorak-Gedenkstätte in Vysoka)
Mährisches Landesmuseum in Brno
Naprstek-Museum (Ethnographie)
Museum Ostrava
L. Janácek-Gedenkstätte
Gedenkstätte Theresienstadt/Terezin
Musikarchiv Kromeriz
Musikarchiv des Prager Konservatoriums
Musikarchiv des Tschechischen Rundfunks.
b) Bibliotheken
Musikabteilungen öffentlicher Bibliotheken (Saal der Stadtbibliothek),
in Regional-, Bezirks- und Ortsbibliotheken.
Musikabteilungen der Universitätsbibliotheken
Musikbibliotheken spezialisierter Institute
Die bedeutendsten:
Nationalbibliothek, Musikabteilung (Prag)
Städtische Bibliothek Prag, Musiksektion
Mährische Landesbibliothek, Musikabteilung (Brno)
c) Institute
Anzahl: Sieben
Theaterinstitut
Ethnologisches Institut der Akademie der Wissenschaften der
Tschechischen Republik mit musikhistorischer Abteilung
Institut B. Martinu
Kabinett der Musiklexikografie am Musikwissenschaftlichen Institut
der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität
Brno
Nationales Institut für Berufsausbildung
Studien- und Informationszentrum L. Janácek
Institut für Musikwissenschaften an der Philosophischen
Fakultät der Karls-Universität Prag.
4. Orchester und Musiktheater
Anzahl ehemals staatlicher Orchester, jetzt vom Kulturministerium
oder den Städten eingerichtet: 15
insgesamt etwa 42 Sinfonieorchester mit relativ beständiger
Besetzung. Davon Rundfunkorchester: Symphonieorchester des Tschechischen
Rundfunks, Philharmonie Plzen (eigenständiger rechtlicher
Status).
Kammerorchester mit Bläserharmonie
Anzahl: 35
Opernhäuser
Anzahl: 12 mit Opern-, Ballett- und Operettenbetrieb
Die bedeutendsten: Nationaltheater Prag, Staatsoper Prag, Nationaltheater
in Brno, Mährisch-schlesisches Nationaltheater Ostrava
Internationales Musikfestival Mährischer Herbst, Brno
Internationales Musikfestival Prager Frühling
Internationales Musikfestival Herbstsaiten, Prag
Junges Podium Karlovy Vary
Musica sacra Praha
Herbstfestival geistlicher Musik Olomouc
Trampska Porta
Fest des heiligen Wenzels, Prag
Talentinum, Zlin
Trideni plus, Prag
Weihnachtsfestival geistlicher Musik Brno
(Mitarbeit an diesen Daten Dr. J. Bajgar, HIS [Musikinformationszentrum])
6. Musikwirtschaft
a) Musikverlage
Um die 80
Davon die bedeutendsten: Editio Baerenreiter Prag, Editio Janacek,
Folk and Country, Hradecky-Musikverlag für Schulen, Musikinformationszentrum,
Muzikus, Panton International Prag,Theaterinstitut.
b) Instrumentenbaubetriebe
Etwa 1.800
Der Tschechische Verband der Instrumentenbauer umfasst 14 große
Firmen, das heißt etwa 1.500 Angestellte, und 200 kleinere
Firmen mit je ein bis drei Angestellten.
c) Musikzeitschriften
Etwa 50
Die bedeutendsten: Czech Music, Folk and Country, Folklor, Harmonie,
His Voice, Hudba a zvuk [Musik und Klang], Hudebni rozhledy [Musikalische
Rundsichten], Hudebni veda [Musikwissenschaft], Hudebni vychova
[Musikalische Erziehung], Opus Musicum, Rytmus.