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nmz
2004/09 | Seite 24
53. Jahrgang | September
Musikvermittlung
Was ist eigentlich eine integrative Rockband?
Live gut und im Studio: Die Wiener Rockband echt stoak präsentiert
ihre CD „Sonnenfrau“
Der Begriff der Musikvermittlung ist seit geraumer Zeit in aller
Munde. Im musikalischen Volksmund wird darunter mittlerweile nahezu
alles subsummiert, was musikalisch-künstlerisch und musikpädagogisch
außerhalb des schulischen Musikunterrichtes für Kinder
und Jugendliche angeboten wird. Auch wenn die folgenden Artikel
aus Sicht der Fachleute einem recht emanzipierten Begriff der Vermittlung
unterliegen, so stellen sie dennoch eine repräsentative und
aktuelle Mischung an musikvermittelnden Aktivitäten der außerschulischen
Musik- und Konzertpädagogik dar:
Musik ist eine universale Erfahrung in dem Sinne, dass alle an
ihr teilhaben können; ihre fundamentalen Elemente Melodie,
Harmonie und Rhythmus sprechen jeden Menschen an und aktivieren
die entsprechenden psychischen Funktionen. Musik ist auch dahingehend
universal, dass ihre Botschaft, der Inhalt ihres Ausdrucks, alle
Höhen und Tiefen menschlicher Erfahrung umfassen kann. Sie
kann die Seele durch alle Stadien ihrer Erfahrung führen oder
begleiten, ganz gleich ob diese nur oberflächlich und verhältnismäßig
allgemein sind oder tief und sehr persönlich.
Diesen Standpunkt hat sich Kurt Mittler seit vielen Jahren zu
eigen gemacht. Der Musiker und Instrumentallehrer – gleichzeitig
auch in der bildnerischen Kunst tätig – öffnete
seit vielen Jahren schon seine Gitarren-Kurse an einer Wiener Volkshochschule
auch für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Denn gerade
für sie kann Musik eine Welt voll zwingender, aktivierender
Erfahrung werden. Sein Engagement stieß bei verschiedenen
Seiten auf großes Interesse. So überließ die Administration
dieser Volkshochschule Mittler einen geeigneten Proberaum, wobei
die Finanzierung von Seiten der Magistratsverwaltung abgewickelt
wird.
Echt stoak
Vor einigen Jahren hat sich in diesem Rahmen die Gruppe echt stoak
formiert. Da musizieren Niki Prasek und Reinhard Sinn, voc, sowie
Severin Neira, Drums, gemeinsam mit bekannten Musik-Profis wie Conrad
Schenk, Gitarre, Wolfgang Heinrich, E-Bass und Christian Mühlbacher,
Drums. Mit „Sonnenfrau“ brachten sie jüngst ihre
dritte CD auf den Markt.
Bei ihren Auftritten auf Festivals, beim Integrationsball oder während
der CD-Präsentation springen die Funken unmittelbar über.
Viele Mitwirkende berichten von positiven Energien, die geflossen
sind, von der guten Laune, die ansteckend wirkt, von dem runden,
ganzen Erlebnis. Denn hier passiert etwas Erstaunliches: Die Beschäftigung
mit der Musik, die Proben, das gemeinsame Erarbeiten der Songs und
die Aufführungen, alles das vermag einen häufig zu spürenden
Isolationskreis zu durchbrechen. Mitunter sind diese Menschen durch
ihre geistige oder körperliche Behinderung – oft sind
es auch Mehrfachbehinderungen – vom Lauf und Inhalt eines
normalen Lebens weitgehend abgeschnitten. Sie sind darin beeinträchtigt,
Lebenserfahrungen zu assimilieren und haben teilweise wenig oder
gar kein Zutrauen zu den Kräften der eigenen Psyche. Sie leben
teilweise in einem Strudel von Emotionen, oder umgekehrt kann ihr
Bewusstsein so schwach sein, dass es nur entstellte Bruchstücke
der Wirklichkeit des Seins verarbeitet. Kommunikations-Schwierigkeiten
verhindern zuweilen die Aussicht auf mancherlei Können und
auf die damit verbundene Lebenserfüllung.
Das gemeinsame Musizieren, die regelmäßigen und intensiven
Proben sowie die Auftritte durchbrechen diesen negativen Kreis.
Kurt Mittler verwendet viel Zeit, um mindestens eine Probe pro Woche
zu realisieren, die intensiv genutzt wird. Es sollte erwähnt
werden, dass diese drei jungen Menschen die Proben in ihrer Freizeit
absolvieren, denn tagsüber gehen sie ihrer Arbeit nach: Sie
sind Gärtner-Gehilfe, Kellner und Weber. Kurt Mittler weist
in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Proben nicht nur der
Freizeitgestaltung dienen, sondern dass da ein großer Teil
an gesellschaftlicher Bildung und Erziehung stattfindet. Dass sie
dort Toleranz, Respekt und Verlässlichkeit lernen und erfahren.
Und dass diese Arbeit gesellschaftlich zunehmend gewürdigt
werden sollte.
Schwierigkeiten meistern
Wie funktioniert das, einem Menschen, der nicht lesen kann, eine
längere melodische Phrase oder einen Rhythmus beizubringen?
„Die Band ist den Jungs so wichtig, sie sind ganz intensiv
dabei. Jedes Lied haben sie gemeinsam komponiert, jede Wendung ist
ihr eigener Ausdruck. Sie vergessen nichts. Was sie hier erarbeitet
haben, nehmen sie mit nach Hause und bereiten es nach“, so
Mittler über die Arbeit mit der Band. Die Themen sind selbst
gewählt, etwa der Urlaub in Griechenland, sie selbst, ihre
Ansichten über sich selbst, ihre Arbeit, ihre Träume.
Gerade diese Authentizität macht sie stark.
Natürlich wollen die Musiker, die Behinderten wie die Profis,
bei Live-Auftritten mindestens eben so gut spielen wie im Studio.
Mit diesen hohen Ansprüchen an sich selbst treten sie auf.
Und das kommt eben genau so über die Rampe.
Zum Thema Schwierigkeiten: Die Finanzierung der Produktionen wie
auch die finanzielle und logistische Vorbereitung der Auftritte
werden bislang komplett von den Familienangehörigen selbst
getragen. Langfristig hoffen die Eltern von Niki, Severin und Reinhard,
dass in absehbarer Zeit Sponsoren oder Vereine ihre Arbeit unterstützen
werden.
Die beiden Instrumental-Nummern der CD „Sonnenfrau“,
„Cool up the Brain“ und „Don’t kick the
Duck“, haben nach Mittler Potential für eine Kurzfilm-Sequenz.
Da er, selbst Vater eines behinderten Jungen, auch eine integrative
Filmgruppe betreut, welche sich um Drehbuchgestaltung, um Schnitt
und die Produktion von Filmen kümmert, darf man gespannt sein.
Zur Zukunft befragt, ist es allen Beteiligten ein großes Anliegen,
verstärkt – honorierte – Auftrittsmöglichkeiten
angeboten zu bekommen, um die Arbeit einer größeren Öffentlichkeit
vorstellen zu können. Man hofft auf Hilfe, um das schwere technische
Gerät der Band vor Ort zu transportieren. Oder auf eine Unterstützung,
um die anstehende DVD finanzieren zu können. „Es ist
so mühsam, alles allein zu organisieren, für alles allein
verantwortlich zu sein“, so Mittler.
Denn es sind ja nicht nur Forderungen, die gestellt werden. Auf
der anderen Seite gibt die Band sehr viel zurück. Gerne sind
Musikerzieher eingeladen, gemeinsam mit ihrer Klasse einer solchen
Probenphase beizuwohnen; zu erleben, für welche große
Begeisterung Musik sorgen kann; wie wichtig die Probenarbeit genommen
wird.
Projekt Musikvermittlung
Was in Deutschland an vielen Musikschulen schon lange selbstverständlich
ist, wird in Österreich derzeit an vielen Stellen diskutiert.
Man denkt darüber nach, verstärkt Instrumental-Unterricht
auch für Menschen mit besonderen Bedürfnissen anzubieten.
An einer Wiener Musikschule wird ab Herbst eine Absolventin der
Abteilung Rhythmik der Universität für Musik und darstellende
Kunst Wien Instrumental-Unterricht für behinderte Menschen
anbieten. Auch das IGP-Seminar Neue Wege der Musikvermittlung der
Universität für Musik und darstellende Kunst Wien wird
sich ab Herbst verstärkt diesem Thema widmen. Im Sinne einer
„Pädagogik der Vielfalt“ wird Musik für alle
Mehrheiten und Minderheiten gelehrt, um einer gleichberechtigten
Wertschätzung und der pädagogisch untrennbaren Heterogenität
willen. Es gibt viel zu tun!