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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 12
53. Jahrgang | September
Nachschlag
Hits aus dem Sangria-Kübel
Ihre Strohhalme sind meterlang. Für viele ist es oft der
Letzte. Sie nehmen an albernen Spielchen teil, deren einzige Hauptanliegen
mit ungeschicktem Körperkontakt oder finaler Ohnmacht am hoffnungsvollsten
beschrieben werden können. Spätere Heirat ausgeschlossen.
Und wenn sie nichts von alle dem tun, wälzen sie sich in einer
Lache aus Alko-Pops, Sand und Poolwasser um für die omnipräsenten
RTL II-Kamerateams (Die Redaktion Spezial – „Feiern
am Ballermann Teil 345“, Donnerstagabend) zu posieren.
Gesprochen wird freilich vom „Ballermann-Gast“, der
sich für eine Woche zu 200 Euro pauschal mal so richtig gehen
lässt und mit Handgepäck reist („Jupp hat die Zahnpasta,
ich die Bürste“). Denkt man vordergründig.
Die Wahrheit sieht leider bitterer aus. Langsam und zum ersten
Mal diesen Sommer spürbar haben sich die intoxikierten „Ballermänner“
zur neuen „Ge-neration TS“ (Talent-Scout) auf der Entwicklungsstufe
hochgebeamt und übernehmen die Kernarbeit der aus Fusionsgründen
gestrandeten Plattenmanager.
Während jene einst monatelang und fast verwahrlosend im Untergrund
neue Künstler suchten und entdeckten, sitzen sie heute bei
„Alarmstufe Orange“ in „PTTs“ (Possible
Terrorist Targets) am Potsdamer Platz hinter Glasscheiben im 20.
Stockwerk und warten auf den Donnerstagabend bei RTL II. Denn auf
„Malle“ (dem besseren Deutschland) werden die Erlkönige
der künftigen Charthits einem ordentlichen Test unterzogen.
Die Voraussetzungen sind simpel: Man nehme drei Hektoliter billigen
Sangria und eine Tonne Strohhalme. Dazu eine taugliche TV-Kulisse
mit Plastikpalmen, Schaum gefülltem Swimming-Pool und Moderatoren,
die außer „yeah, supergeil, hihi, olé oder Wahnsinns-Stimmung“
nichts sagen können. Dazu junges Publikum (plakativ gern gesehen:
der lallende Bayer mit Sepplhut aus dem Kultlokal „Oberbayern“),
das knapp bekleidet und bereits „vorgeglüht“ in
der „Partyzone“ aufschlägt. Als Beigabe gibt es
in Deutschland unbekannte Künstler wie Micky Krause (Superhits
á la: „Zeig mir deine Möpse“, „Geh
doch zu Hause, du alte Schlampe“, „Zehn nackte Friseusen“),
Michael Wendler (hat noch keinen Hit, wird aber mit „Unsterblich“
bald in Deutschland landen) und Peter Wackel („Nüchtern
bin ich so schüchtern“). Oder seit 30 Jahren um’s
Comeback kämpfende Strand-Ikonen wie Jürgen Drews.
Um die tieferen Bedürfnisse der potenten Mann-Schaft zu bedienen,
werden auf mittelalterliche Rechte zurecht gestutzte Frauen alias
Sängerinnen in Make-up ertränkt um sich zu Playback-Nummern
auf der Bühne gänzlich zu entblößen oder von
Angetrunkenen anfeuern zu lassen.
Additiv gibt es den Prototypen des Test-Hits, der nur würdig
ist, wenn er im Liegen, Fallen, würgend auf der Toilette, unter
dem Tisch, unter den Achseln des Kumpels, während der Sangria
Schnell-Infusion und noch Tage später (Vorsicht: der Hit als
Schläfer!) beim Abrufen bestimmter Ereignisse fehlerfrei und
laut genug gebrüllt werden kann.
Dabei spielt Respekt kaum eine Rolle. Und das Wort Phänomen
scheint mehr als unangebracht. Gnadenlos muss jedes Genre an die
Schmerzgrenze: Volksmusik, Schlager, Hardrock, Techno. Jüngste
Beispiele: die Volksmusikanten „De Randfichten“ mit
„Lebt denn d’r alte Holzmichl noch?“ Rand- und
bandlos steigen 16- bis 30-Jährige auf die Kübeltische
und grölen den lange nicht an „Patrona Bavaria“
reichenden Song der Ossi-Folker mit, als servierte man ihnen ein
kontemporäres „Imagine“. Junge Frauen kippen aus
den Latschen, gestandene Männer bekennen sich zur Volksmusik.
Oder der substanzloseste Song aller Zeiten: „Dragostea Din
Tei“, von dem zwei Versionen in sämtlichen Charts die
Plätze Eins und Zwei belegten. Wahlweise von der lasziven Rumänin
„Haiducii“ oder der schmerzfreien Boyband „O-Zone“
vorgetragen. Am schlimmsten trifft es aber Künstler wie Sting,
der hilflos mit anhören muss, wie talentfreie DJs Songs seiner
wegweisenden Kultband „The Police“ wie „Message
in a Bottle oder „So Lonely“ verhunzen und mit tumben,
idiotischen Technobeats aus der Vorschlagskiste des PC unterlegen
und als neuen Song verkaufen.
Die traurige Realität lautet: Sie alle werden Monate später
Hits in Deutschland, wenn sie in Spanien auf Leber und Milz getestet
wurden und den Song-TÜV bestanden haben. Der „Malle im
Winter 2003“-Besucher wird zum routinierten Plattenfuchs.
Denn er hat ja längst entschieden, wer oder was in Deutschland
Hit werden darf. Seine strengen Kriterien, die selbst „Hartz
IV“ harmlos erscheinen lassen, sind für die Ohren und
Augen der Plattenmanager entscheidend. Wenn der Testkonsument säuft
bis zum Umfallen und trotzdem noch des „Holzmichls“
erhaben bleibt, dann wird erst der Reißverschluss hochgezogen,
die Fernbedienung gereinigt und die Geldmaschine angeworfen: „Mallorca-proved“
Stempel, Crossover-Promotion (Bullet of the Week, Serien-Soundtrack,
Einspielteaser bei Programm-Vorschauen) und „Malle“-Events
im örtlichen Tanztempel mit Kurzauftritten der musikalischen
„Outlaws“ vom Ballermann.
Flüchten ist zwecklos, denn selbst die öffentlich-rechtlichen
Sendeanstalten sind sich nicht zu schade, den „Holzmichl“
zur Primetime zu präsentieren. Zwar schunkeln da die senioristischen
Reisebus-Gesellschaften, aber Hey!: „Macht kaputt was Euch
kaputt macht“. Irgendwie doch phänomenal.