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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 8
53. Jahrgang | September
Jazz, Rock, Pop
Große Kleinstadt: Stomper, Bürger, Breakdance
Musical-Projekt: Eine gelungene Kooperation zwischen Eltern, Schülern
und Schule in Weikersheim
Schwere Gedanken machen sich unsere Bildungspolitiker leider erst
seit PISA, wie sie denn das Schulsystem gründlich reformieren
könnten. Mit Kompetenz von außen sollen die an Bürokraten-Reißbrettern
entstandenen Lehrpläne durchlüftet werden. Kompetente
Bürger sind gefragt, Ingenieure, Kaufleute, Redakteure, die
ihr berufspraktisches Wissen an Kinder und Jugendliche weitervermitteln.
Aber woher nehmen und nicht stehlen? Zusätzliche Etats dürften
in ausreichendem Maße kaum zur Verfügung stehen. Und
besitzen diese externen Pädagogen – so man sie auftreibt
– dann auch die notwendigen Vermittler-Tugenden? Da heißt
es erst mal, wieder drei Evaluations-Kommitees ins Leben rufen –
und für viel Geld gutachtern lassen. Die Zeit verrinnt.
Ein Jahr Training (neben
der Schule) führt zur Perfektion: Die „Stomper-Crew“
des Musical-Projektes „AugenBlicke“ riss das
Publikum buchstäblich von den Stühlen. Foto: Arno
Boas
Was für ein Reichtum, wenn in einer Stadt das Gemeinwesen
so offensichtlich stimmt wie in Weikersheim. Da kann es dann vorkommen,
dass Bürger, Schülereltern selbst die Initiative ergreifen
und sich konstruktiv in den Gymnasiumsalltag einbringen. Voraussetzung
dafür ist sicherlich, dass ein nicht nur wirtschaftlich akzeptables,
sondern auch ein kulturell gesundes Klima die Großwetterlage
der Kommune lange Zeit bestimmt. Seit über fünfzig Jahren
wirkt vor Ort in Weikersheim die Jeunesses musicales. Nicht von
allen allzeit gut gelitten, vor allem in den Anfangs-Jahrzehnten.
Aber kontinuierlich, nachdrücklich und selbstbewusst eine vielgestaltige
Musikalität pflegend hat dieser Verband nicht nur das Weichbild
der Stadt entscheidend geprägt. Wenn man kein eingefleischter
Großstädter ist, mag man gern in Weikersheim leben. Die
Atemluft wirkt weicher als in vergleichbaren umliegenden Gemeinden.
Solche Luftkurorts-Gefühle mögen auch den ehemaligen
Jeunesses-Generalsekretär Claus Harten bewogen haben, sein
Domizil im Taubertal beizubehalten, obwohl ihn sein Beruf als Personal-
und Unternehmensberater eher in die Metropolen lenkt. Zusammen mit
seiner Frau Ulrike Goldbeck, Pianistin und Dozentin an der Würzburger
Musikhochschule, versammelte er – mittlerweile eher branchenfremd
– eine stattliche Zahl an Weikersheimerinnen und Weikersheimern
in der Absicht, ein selbst- gestaltetes und sich selbst tragendes
Musical gemeinsam mit dem örtlichen Gymnasium auf die Beine
zu stellen. Das war vor drei Jahren – den modischen PISA-Schock
gab’s noch nicht. Zusammen mit drei aufgeschlossenen Gymnasiallehrern,
Inga Schulzki-Seiter (sie fasste später die tausend aufgeblühten
Ideen zu einem schlüssigen Libretto zusammen), dem „Projekt-Regisseur“
Andreas Neidhart und dem „Generalmusikdirektor“ Bert
Ruf wurde ein Kernteam gebildet, um das sich bald über hundert
aktive Mitstreiter scharten: Eltern, Schüler, Lehrkräfte
– Weikersheimer. Ein komplettes, bürgerschaftlich getragenes
Musical-Unternehmen entstand (mit kompletter Fundraising- und Marketingabteilung,
Design-Center, Text-und Komponierwerkstatt, Instrumental-, Gesangs-,
Dance- und Stunt-Trainern, Bühnenbildnerei, Kostümschneiderei,
Internet-Auftritt samt Merchandising-Abteilung) – und bestand
die lange Zeit bis zur Premiere.
Ausgesprochen bescheiden war man nicht bei der Wahl des Sujets:
„AugenBlicke“ – so auch der Titel des Musicals
– können ein Leben verändern. Selbst in der „Provinz“
mit ebenso bewährten wie eingefahrenen Strukturen und Verhaltensweisen
(der Name Weikersheim fällt natürlich nie...). Eine Gruppe
Berliner „Stomperinnen“ (Menschen, die mit Gebrauchsgegenständen
kunstvolle Percussion produzieren) sind zu einem Kleinstadtfest
eingeladen, treffen in einem Jugendzentrum auf rivalisierende einheimische
Gruppen (Rapper, brave Bürgerkinder, Breakdancer) und geraten
natürlich auch mit deren Eltern in verstörende und klärende
Konflikte.
Was hier ein wenig nach aktualisierter „West Side Story“
klingt, gelang den AugenBlicke-Machern hautnah, glaubwürdig,
eigenständig und in schier unglaublicher Qualität. Mehr
als ein Jahr trainierten die Schülerinnen der „Stomper-Crew“
für ihre – im Ergebnis hochprofessionellen – Auftritte.
Die Breakdancer schienen gerade aus der Bronx eingeflogen –
die Rapper aus Brooklyn. Wer die Aufführung mit der mild reduzierten
Erwartung anging, die man „Schülertheater“ gewöhnlich
herzig entgegenbringt, wurde auf’s Angenehmste enttäuscht.
Kernige Gesangsleistungen und eine auf den Punkt getunte Band ließen
in Weikersheims Stadt-(Turn)-Halle Carnegie-Feeling aufkommen statt
deutschem Stadt-Theater-Muff – ein echtes Kunststück.
Wie leider oft bei wirklich gelungenen Veranstaltungen – gemessen
am Aufwand für rare acht Aufführungen – nur sehr
kurze „AugenBlicke“ des Erfolges? Drei Jahre gemeinsames
Phantasieren, Entwickeln, in harter Arbeit umsetzen – das
hinterlässt gute Spuren nicht nur bei den handelnden Personen.
Im Publikum entstand – und das wurde nicht nur bei den Schluss-Ovationen
deutlich – ein spürbar stolzer „Spirit of Weikersheim“.
Sowas bei uns. Sowas von uns. Das „Kultur-Bad Weikersheim“
ist umliegenden Luftkurorten ein weiteres Stück enteilt.