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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 41
53. Jahrgang | September
Bücher
Die Stunde Null ist eine Illusion
Eine Studie zu Musikverlagen im Nationalsozialismus
Sophie Fetthauer: Musikverlage im „Dritten Reich“
und im Exil (Musik im „Dritten Reich“ und im Exil,
Band 10), Von Bockel Verlag, Hamburg 2004, 586 S., € 58,00,
ISBN 3-932696-52-2
In den Chroniken deutscher Musikverlage werden die braunen Jahre
meist nur knapp gestreift. Über bereitwillige Anpassungen an
die neuen Verhältnisse, Veränderungen in den Katalogen
und über das Schicksal rassisch oder politisch verfolgter Komponisten
oder Verlagsmitarbeiter erfährt man fast nichts. Verlage, die
von Arisierungen profitierten, verschwiegen bislang diese peinliche
Tatsache oder bezeichneten sich sogar selbst als Opfer. Auch viele
Betroffene wagten keine offene Auseinandersetzung. Erst seit kurzem
fällt Licht in das Dunkel. Nachdem auch die GEMA anlässlich
ihres Jubiläums zur Aufklärung beitrug, liefert nun Sophie
Fetthauer den umfassendsten Beitrag zum Thema. Die Hamburger Musikwissenschaftlerin,
die schon in einer Geschichte der Deutschen Grammophon kompetenten
Umgang mit NS-Quellen bewiesen hatte, konnte trotz Kriegszerstörung
von Archiven und trotz Zurückhaltung mancher Verleger eine
beeindruckende Materialfülle zusammentragen.
Das damals weltweit führende deutsche Musikverlagswesen hatte
sich 1933 dem Regime widerstandslos angepasst, erhoffte es sich
doch einen Ausweg aus dem durch die Weltwirtschaftskrise bedingten
Rückgang im Notengeschäft. „Nichtarier“ im
Vorstand des Verlegerverbands DMVV wurden durch NSDAP-Mitglieder
ersetzt. Schon im Juni verpflichtete sich der Verband, das deutsche
Musikleben „von allen artfremden minderwertigen und anstößigen
Erzeugnissen“ zu säubern. Dies betraf wie Willy Strecker
gegenüber Strawinsky erläuterte, vor allem Kommunisten
und Juden und sei deshalb zu begrüßen.
Trotz solcher „Säuberungen“ und trotz vehementer
Polemik gegen Judentum und Kulturbolschewismus durften „Nichtarier“
überraschend lange in ihrem Beruf verbleiben. Wie Fetthauer
nachweist, waren für das Regime wirtschaftliche Motive in letzter
Instanz wesentlicher als Kulturpolitik. International bekannte Unternehmen
wie Peters und Eulenburg blieben noch bis 1938 unter der Leitung
ihrer jüdischen Besitzer, da sie erhebliche Deviseneinnahmen
erbrachten. Auf diese Weise konnte der Umsatz-Rückgang Mitte
der dreißiger Jahre annähernd ausgeglichen werden.
Dennoch fanden schon vor 1938 Arisierungen statt. Am frühesten
aktiv wurde dabei der Volkswirt Hans C. Sikorski. Er war Partner
von Max Winkler, dem Gründer und Leiter einer geheimnisvollen
Cautio Treuhand GmbH, die im Auftrag von Goebbels etwa 1.500 Zeitungsverlage
übernahm und über 2.000 Zeitungen in den Zentralverlag
der NSDAP eingliederte. Über Arisierungen von Musik- und Bühnenverlagen
für die Cautio kam Sikorski ab 1935 ins Musikgeschäft.
Nachdem er bald Miteigentümer der zuvor treuhänderisch
geführten Unternehmen geworden war, fügte er ab 1938 seiner
Berliner Verlagsgruppe die Dr. Hans C. Sikorski KG Leipzig hinzu,
die aus den von ihm „arisierten“ Verlagen Benjamin,
City, Rahter und Simrock bestand.
Der „Anschluss“ Österreichs hatte die heiße
Phase der Arisierungen ausgelöst. Damals begann, wie Sophie
Fetthauer schreibt, ein „regelrechter Raubzug“. Zu den
kostbarsten Objekten gehörten der Wiener Bühnen- und Musikalienverlag
Weinberger, der viele Weltrechte unter anderem für Johann Strauß,
Franz Lehár und Robert Stolz besaß, sowie die Universal
Edition. Zu einem günstigen Kaufpreis, der sich innerhalb kürzester
Zeit amortisierte, konnte Sikorski sich den Weinberger-Verlag sichern,
während die Universal Edition nacheinander durch mehrere Hände
wanderte. Das Rennen machte schließlich der frühere Schott-Mitarbeiter
Dr. Johannes Petschull, der sich schon bei der Übernahme des
Leipziger Traditionsunternehmens C. F. Peters „bewährt“
hatte. Er profitierte neben Sikorski am meisten von Verfolgung und
Exodus „nichtarischer“ Musikverleger.
Die Autorin, die bei ihren Recherchen auch von Sikorskis Sohn unterstützt
wurde, stellt die oft komplizierten und im Rahmen der damaligen
Legalität durchgeführten Transaktionen sachlich und nur
selten wertend dar. Insgesamt, schreibt sie, sei Hans Sikorskis
Position im NS-Staat „nicht eindeutig“. Diese Zurückhaltung
erklärt sich aus den oft verwickelten Sachverhalten, aber wohl
auch aus der Brisanz des Themas. Verwickelt ist die Situation auch
beim Musikverlag C.F. Peters. Obwohl Henri Hinrichsen, dem einstigen
Eigentümer, von der ihm beim Zwangsverkauf zugesagten Geldsumme
nach der Flucht fast nichts blieb und er selbst 1942 in Auschwitz
ermordet wurde, konnte sich Petschull nach 1945 mit dessen Sohn
Walter Hinrichsen einigen. Dieser war als US-amerikanischer Kulturoffizier
nach Leipzig gereist, wo er das Verlagshaus Peters wieder für
seine Familie in Besitz nahm. Überraschend beließ er
dabei den „Ariseur“ in seiner Position als Geschäftsführer.
Hintergründe einer solchen Einigung ahnt man, wenn man liest,
dass die Rückübertragung kurz vor dem Einmarsch der Roten
Armee stattfand und Hinrichsen auch die inzwischen angeschlossene
Universal Edition erhalten sollte.
Wie immer es dazu kam: Hinrichsen erhob schließlich Anspruch
auf ein anderes arisiertes Unternehmen. Damit bestätigt sich
die traurige Beobachtung, dass in einem Terrorregime Grenzen zwischen
Tätern und Opfern teilweise verfließen und in Grenzsituationen
Opfer sogar zu Komplizen werden. Im Hintergrund dieses sachlichen
Berichts dürften mehrere Kriminalgeschichten stehen, die noch
zu schreiben sind.
Insgesamt konnte die Autorin 190 Verfolgte aus dem Verlagsbereich
ausfindig machen. Einige von ihnen starben auf der Flucht oder in
Konzentrationslagern, während viele ihre Tätigkeit im
Ausland fortsetzten. Als wichtigstes Aufnahmeland erwies sich Großbritannien,
dessen Musikverlagswesen Persönlichkeiten wie Adolf Aber, Hermann
Benjamin, Otto Blau, Kurt Eulenburg, Otto Fürstner, Max Hinrichsen,
Alfred Kalmus, Ernst Roth, Richard Schauer und Erwin Stein wesentlich
verbesserten und internationalisierten. Sie trugen zur Verbreitung
der ihnen vertrauten mitteleuropäischen Musik, etwa von Béla
Bartók, Gustav Mahler und Richard Strauss, bei, förderten
aber auch britische Komponisten. So wurde Erwin Stein zum wichtigsten
Mentor Benjamin Brittens. Anders als für Interpreten erwiesen
sich die USA für Verleger als weniger attraktiv, was an der
schlechteren Urheberrechtssituation und dem abweichenden Repertoire
lag. Dennoch konnte Hans Heinsheimer den Musikverlag Schirmer zu
beträchtlichen Katalogerweiterungen bewegen. Hatte der Leipziger
Peters-Verlag sich vor allem um klassische Meister verdient gemacht,
so wurde die C. F. Peters Corporation New York unter Max Hinrichsen
zum Verlag von John Cage, Elliott Carter, John Cowell, Lou Harrison
und anderer Avantgardisten.
Dank der Kompetenz und Tatkraft der aus ihrer Heimat geflohenen
Musikverleger blühte diese Branche im Ausland auf. Die von
den Nazis begonnene Aushöhlung des deutschen Musikverlagswesens
führte der Bombenkrieg grausam weiter. Vor allem Leipzig erlitt
immense Verluste. Dennoch gab es auch hier keine „Stunde Null“.
Denn trotz Krieg und trotz Entnazifizierungs- und Restitutionsverfahren
behielten Hans C. Sikorski und Johannes Petschull innerhalb der
Branche die gewichtige Position, die sie den Arisierungen verdankten.
Zum gesamten Themenbereich ist, wie Sophie Fetthauer im Nachwort
betont, noch viel Detailforschung zu leisten. Ihr gründlich
recherchiertes Buch, zu dem auch Kurzbiographien verfolgter Verleger
gehören, liefert dafür eine Grundlage.