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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 27
53. Jahrgang | September
ver.die
Fachgruppe Musik
Im Spannungsfeld zwischen Original und Kopie
„Die Zeit ist eine Kugel“ · Das musikalische
Zitat, ein Gespräch mit Errico Fresis
Der griechische Musiker Professor Errico Fresis (geb. 1963) war
zuletzt Kapellmeister in Freiburg und leitet die Opernklasse an
der Universität der Künste Berlin. Burkhard Baltzer führte
ein Gespräch mit Fresis über das Thema Original und Kopie.
Burkhard Baltzer: In keinem mir greifbaren Musiklexikon
findet sich der Begriff „Zitat“. Das heißt doch
nicht, dieser Begriff ist für die Musik uninterressant? Errico Fresis: Natürlich ist er gebräuchlich, vor
allem um eine Kontinuität zur Tradition herzustellen. Man denke
nur an die Klassik, wo unter dem Mantel der Variation starke Formen
ausgeprägt wurden.
Der griechische Musiker
Errico Fresis. Foto: privat
Baltzer: Nach dem Muster der Brahms’schen Haydn-Variationen? Fresis: Oder Beethovens Diabelli-Variationen. So etwas war
beliebt, weil es ein tonales Gefüge gab, in dem das Thema und
die Variation Eindeutigkeiten besaßen. Man erkannte, dass
es sich um etwas Fremdes handelte, was in einen neuen Kontext „gebaut“
wurde. Mit dem Zerfall der Tonalität im 20. Jahrhundert entstanden
andere Typen von Zitaten; in der Zweiten Wiener Schule und ihrer
Erben und dann in der neuklassischen Schule etwa bei Strawinsky…
Baltzer: Stopp! Noch einmal zurück in die Musikgeschichte
unter Erweiterung des Blickwinkels auf „Bearbeitungen“
und „Kopien“. Gibt es hierfür musikhistorisch gesehen
Blütezeiten? Denken wir beispielsweise an Johann Sebastian
Bachs Annäherungen an Vivaldi. Wurden Bearbeitungen besonders
im 17. und 18. Jahrhundert gepflegt? Sind die Variationen, von denen
Sie sprachen, vorrangig im 19. Jahrhundert anzutreffen, und ist
das Zitieren, wie von Ihnen angedeutet, im 20. Jahrhundert beliebt? Fresis: Gewiss war in der vorklassischen Zeit das Zitieren
dem Kopierten sehr ähnlich. Bach etwa hat komplette Werke von
Vivaldi für das Cembalo umgeschrieben, ohne das Wesen der Komposition
zu verändern. Das war überhaupt nichts Verwerfliches in
dieser Zeit.
Baltzer: Eine Form der Reproduktion, bei der man das Urheberrecht,
wie wir es heute kennen, umging? Fresis: So ist es. Es gab keine Hemmungen, es ging um die
Verbreitung und die Spielbarkeit. Vorrangig wur-de Musik „gebraucht“.
Als wirkliche Kunstform sah man Musik erst in der klassischen Zeit,
und tatsächlich gab es in der Klassik sehr viele Bearbeitungen,
wobei deutlich gemacht wurde, dass es sich im Rahmen des Kontextes
um einen Beethoven, um Mozart oder Dussek handelte. Üblich
war es auch, Elemente zu verwenden, um dramaturgische Pointen zu
setzen.
Baltzer: Komponieren nach Art des Meisters XY? Fresis: Ja, eins der berühmtesten Beispiele ist Mozarts
“Don Giovanni”, wofür er hunderte Elemente aus
Gazzanigas gleichnamiger Oper übernahm.
Baltzer: Nehmen wir noch einen Begriff hinzu, den des Topos
und denken an musikalische Schulen wie die Neapolitanische. Und
ich denke an die gebräuchlichen Affekte beispielweise für
Kälte, wo wir heute noch staunen, dass beispielsweise Henry
Purcells berühmte Frost-Arie aus dem „King Arthur”
ganz ähnlich wie Vivaldis „Winter“ klingt. Ist
so etwas dem Stil der Zeit geschuldet oder handelt es sich um einen
musikalischen Code? Fresis: Die Komponisten wussten natürlich voneinander.
Innerhalb der musikalischen Sprache wurden „Mechanismen“
wie Vokabeln benutzt. So standen etwa bestimmte laufende Sechzehntelnoten
für das Schwirren von Pfeilen. Und: Innerhalb eines gemeinsamen
Sprach- und Zeitraumes besaßen diverse Formen eine Relevanz,
meiner Ansicht nach waren die eher vom und aus dem Material selbst
entwickelt, als dass sich Komponisten kopiert hätten.
Baltzer: Wurde dies befördert durch die stilbildende
Vorherrschaft von Musik, von Moden? Etwa die Italiens oder die Frankreichs? Fresis: Ganz bestimmt! Es gab so etwas wie den Kodex, es
gab Traditionen. Wir kennen natürlich auch umfunktionierte
„Vokabeln“ wie bei Monteverdi, wo das Pizzikato –
Affekt für Komisches – ins Tragische verwandelt wurde
oder, völlig unüblich, Sechzehntelnoten als Tonwiederholungen
komponiert wurden. Die Komponisten suchten ja nach einer neuen Sprache,
nach Spracherweiterungen, nach Umdeutungen der musikalischen Semantik
– Zeichen der Genialität.
Baltzer: Sie erwähnten Beethoven und Brahms für
das 19. Jahrhundert. Sind die Variationen, die Bearbeitungen auch
der Entwicklung des Bildungsbürgertums geschuldet? Getreu dem
Motto: Ich bediene mich einer Sprache, eines Codes? Fresis: Abwegig ist diese These nicht. Man kann wohl von
der Notwendigkeit des Schöpferischen innerhalb des musikalischen
Materials sprechen: neue Komponenten zu finden, beziehungsweise
sich das Vorgefundene wie Ausdrucksweisen einzuverleiben, nach neuen
Betrachtungen des Vorgefundenen zu suchen. Nicht als Objet trouvé,
sondern um beispielsweise im Rahmen der Exposition ein Thema als
Bezug zum Komponisten XY aufscheinen zu lassen. Was dann aber danach
passiert, so der Hinweis des Zitierenden, hat nur mit mir, Brahms,
oder mit mir, Beethoven, zu tun.
Ich glaube, diese Art von Bearbeitung und von Variation hat sich
in einer sehr sauberen bürgerlichen Arena entwickelt –
die Arena der Improvisation. Es ist ja bekannt, dass ein guter Virtuose
und ein guter Komponist sich oft an seinem Kollegen mit meisterlichen
Improvisationen über irgendein Thema messen musste.
Baltzer: Wann ist es zulässig, von Fälschungen
zu sprechen? Ist zum Beispiel Prokofjews „Symphonie Classic“
eine Fälschung? Fresis: Bei Prokofieff sehe ich die Bemühung und die
Suche nach einem neuen Stil: den der „Neuen Einfachheit“.
Von Fälschung würde ich hier nicht sprechen. Fälschung
ist für mich zum Beispiel eine Musik, die ethnologische Bezüge
aufweist wie Volksmusik und die auf eine sinfonische Ebene erhoben
wird.
Baltzer: Und was sagen wir somit zu Brahms’ „Ungarischen
Tänzen“? Fresis: (lacht) Ach, ich werde die natürlich weiterhin
hören. Für mich stellt sich die Frage, ob man aus den
Originalen etwas Eigenes macht. Ein anderer Sachverhalt verbindet
sich mit dem Zeitalter der „Goldenen Operette“. Sohn
und Vater Strauß haben sehr gern eingekauft bei Leuten, auch
Studenten, die eine nette Melodie anboten. Aus solchen eingängigen
Melodien wurden ganze Operetten gebaut.
Baltzer: Nun gibt es in dieser Zeit auch große Balladen-Komponisten
wie Carl Löwe, die bewusst im Stil einer Volkslieddramatik
schrieben. Fresis: Für mich keine Fälschung. Eine Reihe von
Komponisten beschäftigten sich mit der Problematik des „Volkstümlichen“,
und was kann erfolgreicher sein, als populär zu sein? Die schönsten
Werke von Verdi sind nicht die populärsten, sondern die, die
nahe dem Volk waren.
Baltzer: Was hat das musikalische Zitat im 20. Jahrhundert
für eine Bedeutung? Eine ähnliche wie bei Schwitters in
der bildenden Kunst? Fresis: Ich kenne drei Arten von Zitaten im 20. Jahrhundert.
Es ist zu differenzieren zwischen Zitaten, die einen dramaturgischen
Zweck haben. Zitate wie bei Gustav Mahler, auch wenn eine nichtexistierende
Melodie „zitiert“ wird: Eine böhmische oder auch
jüdische Kapelle tritt auf den Plan wie in der 1. Sinfonie
im dritten Satz: Das klingt unglaublich nah zur Volksmusik. Und
wenn man weiß, worauf sich Mahler bezog, nämlich auf
den Stich von Callot „Des Jägers Begräbnis“
– verschiedene Tiere tragen einen Jäger zu Grabe –,
so will er bewusst etwas erreichen. Und wenn am Anfang des Satzes
„Frère Jacques“ in Moll und zudem in kanonischer
Art erklingt, dann ist damit eine dramaturgische Absicht verbunden:
Hier soll eine Assoziation hervorgerufen werden. Eine andere, in
neoklassizistischen Kompositionen sehr geläufige Art des Zitierens
findet man bei Strawinsky und bei Hindemith. Hier wird distanziert
und ironisch zurückgeblickt: bei „Pulcinella“ auf
Pergolesi; bei „Jeu de cartes“ zitiert er Rossini; Hindemith
verbaut in seinem Bratschenkonzert einen Trauermarsch. Dagegen verfolgt
Maler einen völlig anderen Ansatz, den des Topos oder des assoziativen
Wegs wie Schönberg oder Berg. Bergs Ländler-Zitat im Violinkonzert
darf in unserem Gespräch nicht vergessen werden. Er zitiert
diesen Ländler über eine gewisse Mizzi. Und so hieß
auch ein Dienstmädchen, mit der Alban als Siebzehnjähriger
ein Kind hatte, das er später einmal traf. Im Violinkonzert
wird zudem Bachs „Ich habe genug“ zitiert. Damit wird
ein Psycho-Topos erzeugt, ebenso im 2. Streichquartett von Schönberg,
wo „Ach du lieber Augustin…“ aufklingt. Und dann
gibt es die Praxis, die bis in unsere Jahre hineinwirkt, die der
Collage, unter dem Begriff „Objet trouvé“ zu
fassen, des vorgefundenen Objekts. Da wird, ob passend oder nicht,
etwas Vorgefundenes völlig unverändert in die Sprache
der Komposition übernommen. Die objektive Benutzung solcher
Zitate drückt die Sehnsucht zu einer musikalischen Sprache
aus, eine Erinnerung. Berios Sinfonie ist mit ihrem dritten Satz
auch deshalb so berühmt, weil er mit Zitaten aus Mahlers Zweiter
collagierend arbeitet: Da entsteht dieser Eindruck, dass man von
irgendwoher die Zweite hört, die dann wieder verschwindet,
um irgendwann wieder hervorzutreten. Das ist überhaupt nicht
billig, sondern Berio war fasziniert von einer Mahler-Aufführung
durch Leonard Bernstein. Noch andere Zitate sind unüberhörbar:
„La Valse“ von Ravel und der „Rosenkavalier“
von Strauss. Gesteigert wird diese Dramaturgie zusätzlich durch
Texte etwa von Beckett, die er den Sprech- und Singstimmen überträgt.
Damit steht das Werk über einer bloßen Collage, weil
die Zitate dem Aufbau eines neuen Kontextes dienen.
Baltzer: Überhaupt könnte man wohl das 20. Jahrhundert
das Zeitalter des Zitierens nennen. Ist es eine gewagte These zu
behaupten, hier würde mit dem Zitat inmitten des spröden
Materials der Neuzeit ein Ersatz für Sinnlichkeit gesucht? Fresis: Ich glaube, dass dies nicht der Fall ist. Es mag
Kompositionen geben, worin dramaturgische Absichten auf den Zustand
des Zuhörers zielen. Auch „fühlt man sich gut“,
wenn man etwas wiedererkennt. Mit dieser Befindlichkeit geht zum
Beispiel auch Alban Berg im „Wozzeck“ um. Je mehr sich
Wozzeck von seiner „Heimat“ entfernt, desto atonaler
wird die Musik. Hingegen ist Maries Musik äußerst tonal,
was auf Wozzeck ausstrahlt, wenn er sich der Marie nähert.
Baltzer: Da ist etwas Bekanntes, da ist Heimat? Fresis: Ja. Richtig ist, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert
des Zitierens ist. Das hat hauptsächlich zu tun mit der sogenannten
Emanzipation des Materials. Nehmen wir Schwitters und Beuys für
die bildende Kunst oder die Musique Concréte: Das Material
muss nicht verändert werden, um eine Gültigkeit zu erlangen,
es sei denn, es kommt wie bei Beuys eine ordnungsliebende, aber
ahnungslose Putzfrau vorbei. Komponisten wollten mitunter auch eine
Hommage erweisen nach dem Beispiel von Kagels „Ludwig van“
oder Bernd Alois Zimmermanns „Monologe für zwei Klaviere“,
wo Messiaen und Johann Sebastian Bach sogar gleichzeitig erklingen
und sich miteinander auseinandersetzen. Man kann aus allem etwas
machen, das meint der Begriff „Emanzipation des Materials“,
die Frage ist was. Und noch ein Aspekt ist mir wichtig: Seit der
Zeit Schönbergs wissen wir von der Theorie der Einheit des
Raumes, so wie sie von Strindberg oder Balzac entwickelt worden
ist, wonach Vertikale und Horizontale räumlich eine Einheit
sind, wie das schon bei Johann Sebastian Bach der Fall war. Von
Schönberg, dann von Zimmermann („Die Zeit ist eine Kugelform“)
wird die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu
einer Einheit angestrebt. Auch somit ist die Vergangenheit als Zitat
organisch gesehen in der Kugel.
Die Zeitschrift KUNST+KULTUR in ver.di widmet ihre jüngste
Ausgabe dem Thema „Original und Kopie”