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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 37
53. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Lauschig horchen
Zu den 42. Darmstädter Ferienkursen 2004
Die musikgeschichtlich bedeutsamen und nach wie vor von Musikern
und Komponisten aus aller Welt alle zwei Jahre wahrgenommenen Darmstädter
Ferienkurse für Neue Musik waren auch in ihrer 42. Ausgabe
wahrlich ein Renner. Allerdings hat sich die frühere Ost/West-Laufrichtung
wegen der dies-jährigen Verlegung der täglichen Kompositions-
und Interpretationskurse, wissenschaftlicher Begleitkolloquien und
einiger Konzerte von der lange Zeit dafür genutzten Georg-Büchner
Schule an der Nieder-Ramstädter-Straße zur Akademie für
Tonkunst und gegenüberliegenden Lichtenbergschule an der Ludwigshöhstraße
um 90 Grad auf Süd-Nordrichtung gedreht.
Matthias Kaul (re.) mit
dem Ensemble L’art pour L’art: Hommage an Woody
Allens „Radio Days“. Foto: L’art pour
L’art
Dem aus Norddeutschland stammenden Kursdirektor und Leiter des
die Kurse austragenden Internationalen Musikinstituts Darmstadt,
Solf Schäfer, ist es mit den neuen Lehrstätten gelungen,
das improvisatorisch wirkende räumliche Moment der Dekaden
in der Büchner-Schule durch das durchweg professionelle Ambiente
der Akademie für Tonkunst zu ersetzen. Der Charme der frühen
Jahre, als man sich im außerhalb der Stadt gelegenen Schloss
Kranichstein vor genau 58 Jahren zum kompositorischen Neubeginn
traf, sich später Karlheinz Stockhausen in kurzer Hose auf
der Schlosswiese niederließ und damit der Darmstadt-Ikonografie
ihr erstes Heiligenbild lieferte, ist damit endgültig dahin.
Im zweckmäßigen Neubau erscheinen die im Biennalen-Rhythmus
stattfindenden Ferienkurse jetzt als genau das, was sie sind und
eigentlich immer schon waren: Eine hochkarätig besetzte und
die Szene der Neuen Musik nach wie vor weltweit stimulierende Sommeruniversität
mit sehr regem Konzertbetrieb. Mit dem mehr oder weniger symbolisch
verliehenen Kranichtsteiner Musikpreis wird nach wie vor der Fahrschein
in den zeitgenössischen Musikbetrieb gelöst. Kompositionsaufträge
und Auftrittsengagements sind die erfreuliche Folge.
Solf Schäfer hat mit seiner undogmatischen und sanft beharrlichen
Art aus den einstmals als Mekka der Neuen Musik gehandelten Ferienkursen
so eine Art Taizé der aktuellen komponierten, installierten,
improvisierten und visualisierten Musik gemacht. Auch Durchreisende
können hier einen Eindruck von der Quirligkeit der Szene gewinnen.
Was aber „Frére Solf“ jedem mit auf den Weg zurück
in die Gemeinden geben möchte, ist, dass an Neue Musik stärker
geglaubt werden sollte, weil zum Glück niemand vorgibt, eben
genau zu wissen, welches die allein selig machende kompositionstechnische
oder ästhetische Entwicklung wäre. „Wenn ich das
wüsste“, sagte er kürzlich in einem Interview, „wäre
ich ein gefragter Gesprächspartner in der ARD“. Denn
nach wie vor sind die Rundfunkanstalten mit ihren Konzertreihen
und Klangkörpern Hauptträger der Neuen Musik. Darmstadt,
das wurde auch schnell klar, beschränkte sich auf das Moderieren
der Szene: Let’s talk about.
Ich bin zwei Öltanks
Eine schöne Vorstellung: es schneit. Die in San Diego/Californien
lehrende und in Israel geborene Komponistin Chaya Czernowin sorgte
beim hochkarätig bestückten Eröffnungskonzert der
gut zweiwöchigen 42. Internationalen Darmstädter Ferienkurse
für Neue Musik mit ihrer recht taufrischen Komposition „Winter
Songs II: Stones“ für sieben Instrumentalisten und drei
Schlagzeuger, letzten Mai vom Ensemble Modern in Frankfurt uraufgeführt,
zumindest musikalisch und mental für Abkühlung in der
aufgeheizten Sporthalle am Böllenfalltor. Tatsächlich
klangen die Blas- und Streichinstrumente in ihren bevorzugten tiefen
Lagen, als hätte jemand das Fallgeräusch der Schneeflocken
mit empfindlichen Mikrofonen aufgenommen, dynamisch stark gedehnt
und die Abspielgeschwindigkeit schließlich nach alter Tonbandmanier
erheblich verlangsamt.
So wuchsen in Czernowins doppelbödiger Lautmalerei durch diesen
Slow-Motion-Effekt einst luftige Schneeflöckchen akustisch
zu eiszeitlichen Großkristallen an. Die Musikfabrik NRW spielte
diese auskomponierte „Musik am Wachstumsort“ (Rihm)
mit großer Lust an der Zeitlupe, bestätigte mit gestochen
scharfer Intonation und homogenem Zusammenspiel seine internationale
Wettbewerbsfähigkeit an geschichtsträchtigem Ort einmal
mehr. Unter der präzisen Leitung von James Wood hebelten die
Kölner Musiker auch in Enno Poppes großformatiger, ebenfalls
immer langsamer werdenden Doppelkomposition „Öl“
jedes Zeitempfinden aus. Stockhausens investigative Spielanweisungen
aus den Fünfzigerjahren, wie etwa „So schnell langsamer
werden, wie möglich“, haben hier sicher Pate gestanden.
Zudem wurde der in Darmstadt lange Zeit maßstabgebende Musikforscher
Carl Dahlhaus erneut in seiner These bestätigt, dass sich das
zeitgenössische Klangempfinden rein instrumentaler Musik, mitunter
auch Klangschwelgen, aus den Erfahrungen mit elektronischer Musik
und ihren grenzenlosen Frequenzgängen speist – als geschichtliche
Botschaft in Czernowins „Winter Songs“ aufgehoben. Das
Schöne, so Dahlhaus um 1980, sei eben doch nicht nur „einfach
schön“, sondern ebenso theoriefähig wie frühere,
vermeintlich auskomponierte Musiktheorie. Also: Kein Mangel an Überbau
in Darmstadt heute wie damals und reichlich Diskussionsstoff für
die Hirnwindungen im wissenschaftlichen Begleitkolloquium „Musikdenken
heute“.
Da standen die auch als Kursdozenten aktiven Komponisten wie Czernowin,
Poppe, seit langem auch einmal wieder der um 1990 die Ferienkurse
ästhetisch dominierende Brian Ferneyhough, Toshio Hosokawa
und viele andere Rede und Antwort. „Ferneyhough ab!“
wie einstmals geschehen, schrieb niemand mehr heimlich an die Tafel
eines Kursraumes. Dafür haben sich die Positionen einfach zu
sehr relativiert, vielleicht sogar gegenseitig neutralisiert. Seine
melodramatischen „Seven Tableaux Vivantes Representing the
Angel of History as Melancholia“ für Sprecher (Nicolas
Hodges) und Ensemble wirkten gar kurzweilig, vermittelten kein nietzscheanisch
nach unten dräuendes, tiefes Schauen oder eine apokalyptische
Benjamin-Exegese, sondern eher britischen Tonfall als barocke Allegorie
mit einem lachenden und einem weinenden Auge – ein ausgedünnter
Pseudo-Händel, zwar komplex, aber auch paradox.
Großer Lauschangriff
Immerhin gaben sich in Darmstadt 14 internationale Ensembles für
zeitgenössische Musik während gut zweiwöchiger Ferienkursdauer
ein Stelldichein und damit einen trefflichen Einblick in ihre künstlerische
Leistungsfähigkeit. Einige der Musiker waren zugleich Kursdozenten
und mussten entsprechend viel leisten. Tagsüber die Kursteilnehmer
unterrichten, dazwischen noch als Interpret im Kolloquium „Musikdenken
heute“ über das selbst gespielte Konzert am Vorabend
den Studenten Auskunft geben und irgendwann auch zur Probe für
das nächste Dozentenkonzert oder das mit dem eigenen Ensemble
erscheinen, wo etliche Uraufführungen aus der Taufe gehoben
werden wollen – richtig Maloche.
Hundert Prozent Einschaltquote waren in Darmstadts Centralstation
leicht zu erreichen. In den vom Deutschlandfunk in Auftrag gegebenen
und in Kooperation mit dem Hessischen Rundfunk produzierten „Radio
Days“ für zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug von Matthias
Kaul waren vier große, alte Blaupunkt Röhren-Empfangsgeräte
meist auf Sendung. Kaul und das von ihm gegründete Ensemble
L’art pour L’art bestätigten in diesem speziellen
Kontext Deutschlandfunk-Radio-Neue Musik die alte Hermeneutenweisheit,
dass das Werk schlauer ist als sein Autor. Oder anders gesprochen,
dass mehr und vielleicht sogar ein anderer Sinn im Werk stecken
kann, als ursprünglich intendiert. Was laut Programmzettel
als „nostalgische“ Hommage an Woody Allens Film „Radio
Days“ mit vielen eingespielten Kurz- und Langwellenknackern
und radiophonen Unschärfen operierte, beschwörte noch
einmal die Zeiten der deutschen Teilung.
Das Ensemble L’art pour l’art setzte dem Deutschlandfunk
mit radiophonen Unschärfen, eingespielter Öko-mene-Debatte
und endlosem Geklampfe auf den flachgelegten Gitarren gewissermaßen
ein Denkmal. Erinnert wurde nicht nur an die Zeit, als Neue-Musik-Stücke
ebenso hießen, wie die Empfangsfrequenzen des Deutschlandfunks,
nämlich die „Kurzwellen“ von Karlheinz Stockhausen,
sondern auch daran, dass der Deutschlandfunk eben die DDR mit Informationen
und Musik aus dem Westen versorgte, in den Nachtprogrammen mit Neuer
Musik, sonntags mit Messe und Volksmusik. Der Filius übte derweil
autodidaktisch die Songs von Bob Dylan auf der Klampfe. Dylan galt
in der DDR als Klassenkämpfer und wurde in den Jugenklubs eifrig
aufgelegt, besonders, wenn er die USA-Rassendiskriminierung am Wickel
hatte. Genau davon erzählen Kauls „Radio Days“
mit stilisiertem, gegen unendlich tendierendem Geklimpere auf zwei
flachgelegten Gitarren und einem akustischen Bass, während
es aus den Radios rauscht und knackt oder über Ökumene
(nach wie vor ein wunderbares Thema für den DF) debattiert
wird. Abhörsichere DDR-Kopfhörer im Publikum ermunterten
zum Lauschangriff.
Schreibt auf unsere Haut
Fulminanter Abschluss bei den Internationalen Ferienkursen für
Neue Darmstadt Musik mit dem Radio Sinfonie Orchester Frankfurt
unter der Leitung von dessen Chefdirigenten Hugh Wolff in der Sporthalle
am Böllenfalltor: Mit der deutschen Erstaufführung von
Helmut Lachenmanns großorchestralem „Schreiben“
in leicht revidierter Fassung, der live-elektronisch unterfütterten,
raumgreifenden Kompositionsstudie „conglom-o-mat“ als
Kompositionsauftrag der Wissenschaftsstadt Darmstadt des noch recht
jungen Martin Schüttler und György Kurtágs vor
zehn Jahren entstandener „Stele“ wurde die Notwendigkeit
der Präsenz auch großer Klangkörper an diesem vielleicht
doch bedeutendsten Ort kompositorischer Diskussion ohrenfällig.
Nach dem Erfolg seiner Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“
wendet sich Lachenmann verstärkt der großen sinfonischen
Form in realer instrumentaler Klanglichkeit zu. Intervalle und Akkorde
werden von ihm unmittelbar angefasst, wenngleich immer auch rhythmisch
gebrochen oder durch unterschiedliche Artikulationsvorschriften
perforiert. Der einstige Gewohnheitsverweigerer fand in dieser musikalischen
Schwebe zwischen spieltechnischen Erweiterungen im Geräuschhaften
und vorsichtigem Abtasten der sinfonischen Tradition zu einem, mit
Nono zu sprechen, atmenden Klarsein. So auch in der großformatigen
instrumentalen Überschreibung aus Teilen seiner Oper, in der
es im Schlussteil heißt: „Schreibt auf unsere Haut“.
Reine Motorik, in der selbst der Geräuschanteil des Bogenstrichs
nur mehr als Pantomime erahnbar wird, hält sich in der meist
verhaltenen Komposition die Waage mit überbordender Verdichtung
der musikalischen Dramatik in vielleicht als letzte gedachten Posaunenklängen.
Das Werk entlässt den Hörer jedoch nicht mit schlechtem
Gewissen, sondern läutert ihn über die Sensibilisierung
des Hörsinns – von Dirigent Hugh Wolff hochkonzentriert
schlagend aus den Klangblockungen heraus transparent gemacht.