[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 48
53. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Ein neues Forum für die Moderne
Das Lucerne Festival entwickelt wegweisende Initiativen
Wie ist es um die zeitgenössische Musik im Konzertbetrieb
bestellt? Miserabel, wenn man dem um sich greifenden Gejammere über
Subventionsabbau und Publikumsschwund in deutschen Städten
glauben soll. Bestens, wenn man woanders hinblickt – zum Beispiel
zum Lucerne Festival, wo sich die Gegenwartsmusik zu einem blühenden
Bestandteil des Festivalprogramms entwickelt hat. Mit einer umfangreichen
Werkschau von Harrison Birtwistle und der von Pierre Boulez ins
Leben gerufenen „Lucerne Festival Academy“ (mehr dazu
in der nächsten nmz) hat die produktive Auseinandersetzung
mit der Moderne nun eine neue Qualität erreicht.
Beeindruckendes Trio (v.l.n.r.):
Hanspeter Kyburz, Harrison Birtwistle und
Pierre Boulez. Foto: Georg Anderhub
Was andernorts ungeprüft als Leistungsausweis gilt, nämlich
möglichst viele „UAs“ hinter den Werktiteln, fand
sich zwar in Luzern nur fünf Mal. Doch was mutige Programmierung
und neue Initiativen angeht, stellt dieses Traditionsfestival inzwischen
vieles, was in der zeitgenössischen Szene geschieht, in den
Schatten. Auch in Frage. Denn während an den traditionellen
Neue-Musik-Börsen noch immer der Insiderhandel mit Komponisten
und Werken blüht, arbeitet man in Luzern erfolgreich an der
Öffnung des Zirkelwesens.
Schwierige Kompositionen der letzten fünfzig Jahre finden
den Weg zu einem Publikum, das bisher vor allem auf traditionelle
Sinfonik abonniert war, die lokale Musikhochschule wird in die Aktivitäten
einbezogen, Schulklassen besuchen die Proben internationaler Gastorchester,
die im KZ Theresienstadt entstandene Kinderoper „Brundibár“
von Hans Krása wird mit Kindern einstudiert, öffentliche
Gespräche mit Komponisten und Interpreten bereiten die Besucher
auf die anspruchsvollen Programme vor.
Ein Kernpunkt der Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die von
Festivalleiter Michael Haefliger und seinem Dramaturgen Mark Sattler
ebenso umsichtig wie konsequent betrieben wird, ist der Composer-in-Residence.
Er bildet die Schnittmenge, an der alle Programmbereiche teilhaben:
Von den Prestigeveranstaltungen der internationalen Gastorchester
über die Kammerkonzerte und die Festival Academy von Boulez
bis zu den lokalen Hochschulbeiträgen. Ein Basler Chemiegigant
als Hauptsponsor sorgt obendrein für eine gediegene Präsentation
des Künstlers in Form einer Buchpublikation, garniert mit Fotos
von der Mäzenin Betty Freeman, der es in Luzern inzwischen
besser gefällt als in Salzburg.
Der diesjährige Gastkomponist war Harrison Birtwistle. Von
ihm erklangen fast zwanzig Stücke – eine Werkschau von
einzigartigem Umfang, die umso beeindruckender ist, als Birtwistles
sperrige und groß dimensionierte Stücke vom Hörer
große Konzentration und Ausdauer verlangen. Das Orchesterwerk
„Earth Dances“, grandios zur Aufführung gebracht
durch das von Boulez neu gegründete und dirigierte Orchester
der Festival Academy, ist die vielleicht charakteristischste, sicher
aber opulenteste Ausprägung von Birtwistles kompositorischem
Denken: ein vierzigminütiges, extrem dicht gearbeitetes Auf
und Ab einer brodelnden Klangmaterie, die sich zu immer neuen Konstellationen
zusammenballt und den Zuhörer auf eine Abenteuerreise mit ungewissem
Ausgang mitnimmt.
Das formale und strukturelle Modell dieses Monumentalwerks von
1985/86 ist bereits in älteren Ensemblewerken vorgeprägt,
die nun auch zu Gehör gebracht wurden, so etwa „Tragoedia“
(1965), „Silbury Air“ (1977) und „Secret Theatre“
(1984). Bezeichnend für diese – auch für das neuere
„Theseus Game“ für Ensemble mit zwei Dirigenten
– sind die Überlagerung von instrumentalen Schichten,
die klangsatten Heterophonien, und die wandernden Instrumentalisten,
die wie Jazzsolisten abwechselnd an die Rampe treten oder sich immer
wieder zu andern Gruppen formieren.
In der überlegenen Organisation fluktuierender Klangmassen
scheint sich Birtwistles ungestüme kompositorische Fantasie
am besten artikulieren zu können. Die 26 „Orpheus Elegies“
für Countertenor, Oboe und Harfe, von Andrew Watts, Heinz und
Ursula Holliger überaus kompetent uraufgeführt, lassen
demgegenüber eher Fragen offen. Sie enthalten zweifellos faszinierende
Momente, als einstündige Aneinanderreihung formaler Miniaturen
überzeugt das Ganze aber nicht restlos. Ebenso die im gleichen
Konzert uraufgeführten Bearbeitungen von Arien und Choralvorspielen
Bachs: Sie waren Gelegenheitsarbeiten eher beiläufiger Art.
Von der imposanten Birtwistle-Werkschau wurden andere Beiträge
beinahe überstrahlt, obwohl sie nicht minder bedeutsam waren:
Die packende Aufführung von Nonos „Canto Sospeso“
mit dem Ensemble Modern Orchestra unter Heinz Holliger, die Schweizer
Premiere von Klaus Hubers introvertiertem Kammerkonzert „Die
Seele muss vom Reittier steigen...“ mit Kay Wessel, Walter
Grimmer und Max Engel, den Solisten der Donaueschinger Uraufführung
von 2002, die Uraufführung eines architektonisch weiträumigen
Klarinettenquintetts von Peter Maxwell Davies mit Dimitri Ashkenazy
und dem Brodsky Quartett. Dem durchwegs sehr hohen Interpretationsniveau
aller Konzerte entsprach ein Publikumszuspruch, der sich von dem
der klassischen Konzerte kaum unterschied. Die Luzerner Erfahrungen
stimmen optimistisch für die Aussichten der Neuen Musik zu
Beginn des 21. Jahrhunderts.