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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 40
53. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
„Es war der Schatz auf dem Dachboden“
Die Musikaliensammlung der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar
ist unwiederbringlich verloren
Wer als musikinteressierter Zeitgenosse in die Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek
kam und sich dort nicht auskannte, wurde ganz nach oben geschickt.
Über dem Rokokosaal, im ausgebauten Dachspeicher, waren die
rund 2.000 Notenhandschriften und -drucke gelagert, die zum größten
Teil noch selbst von der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar
zusammengetragen worden waren. Beim verheerenden Brand der Bibliothek
am Abend des 2. September, der ausgerechnet im Dachstuhlbereich
seinen Anfang nahm und dem über 50.000 Bücher zum Opfer
gefallen sind, ist die Musikaliensammlung nahezu komplett verbrannt.
Nur einige bescheidene Reste konnten von den Helfern geborgen und
zur Rettung ins Zentrum für Bucherhaltung nach Leipzig gebracht
werden.
Während sich die Bücherregale
durch antiquarische Neuanschaffungen wieder füllen
können, werden die Notenschränke leer bleiben.
Foto: Torsten Hemke
„Canzona dell’ Signor…“, soviel kann man
auf dem Deckblatt noch lesen, der Rest ist verkohlt, darunter ein
Klumpen Papier, der wohl handgeschriebene Noten aus dem 16. Jahrhundert
enthält und vom Löschwasser völlig klamm geworden
ist. Das Autograph ist eine der ältesten Stücke aus der
Notensammlung der Herzogin Anna Amalia. Chefrestauratorin Manuela
Reikow-Räuchle vom Leipziger Zentrum für Bucherhaltung
ist davon überzeugt, dass das kostbare Blatt mittels Gefriertrocknung
wieder hergestellt werden kann – allerdings ist diese „Rettungsaktion“
nur ein winziger „Tropfen auf den heißen Stein“,
wenn man den Verlust der meisten anderen Musikalien bedenkt.
„Die Musikgeschichte der Weimarer Klassik wird zukünftigen
Generationen für immer verschlossen bleiben“, davon ist
Detlef Altenburg von der Hochschule für Musik „Franz
Liszt“ in Weimar überzeugt. Der Professor für Musikwissenschaft
hätte im September mit einer Reihe von Mitarbeitern beginnen
sollen, den Bestand der Musikaliensammlung wissenschaftlich zu erforschen
und aufzuarbeiten, die Gelder für das umfangreiche Projekt,
das nun nicht mehr stattfinden kann, waren bereits bewilligt. Da
die meisten Noten aus den Lebensjahren der Herzogin stammten und
damit auch aus der Zeit Goethes, wären bei der Aufarbeitung
ganz sicher interessante neue Details zum Weimarer Hofleben zutage
gekommen…
Einmal die Woche, immer am Sonnabend, veranstaltete Anna Amalia
Konzerte bei Hofe. Neben Musikern wie dem späteren Hofkapellmeister
Johann Nepomuk Hummel, von dem wahrscheinlich eine ganze Reihe von
Original-Handschriften, die noch nicht auf Mikrofiche gebannt waren,
unwiederbringlich verloren sind und niemals mehr erklingen können,
war es vor allem der Komponist Ernst Wilhelm Wolf, der für
solche Anlässe Musik schrieb. Wolf, der vor seiner Weimarer
Zeit das Collegium musicum der Universität Jena geleitet hatte,
wurde 1772 zum Hofkapellmeister ernannt. Ihm oblag es auch, die
musikdramatischen Aufführungen im Schlosstheater zu leiten.
Nach dem Vorbild des Gewandhausgründers Johann Adam Hiller
in Leipzig schuf Ernst Wilhelm Wolf die Musik zu einer Reihe deutscher
Singspiele mit Titeln wie „Das Gärtnermädchen“,
„Die Dorfdeputierten“ oder „Die treuen Köhler“.
Auch wenn solche Werke bis heute von einigen Fachleuten belächelt
werden, stehen sie doch für den wichtigen Versuch, eine „deutsche
Oper“ zu schaffen und sind damit, wenn man so will, „Urahnen“
von Webers „Freischütz“. Die Partituren der Wolf´schen
Kompositionen sind sämtlich verbrannt, und es ist zu vermuten,
dass etliche Werke aus seiner Hand nie wieder aufgeführt werden
können. Übrigens hatte auch Anna Amalia sich als Komponistin
betätigt, der Verlust ihrer Vertonung von Goethes Stück
„Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ muss ebenfalls
beklagt werden.
Zur berühmten „Tafelrunde“ der Herzogin gehörte
– das ist bis heute wenig bekannt – neben Goethe, Herder
und Wieland unter anderem auch der Kammerherr und Komponist Carl
Friedrich Sigismund von Seckendorff. Zu mehreren Gedichten Goethes,
unter anderem zum „König in Thule“, schuf er Erstvertonungen
und steht dadurch in enger Verwandtschaft mit der neuen Liederschule
Zelters und Reichardts in Berlin, die der Dichterfürst nachweislich
sehr geschätzt hat. Seckendorffs Lieder waren in Weimar äußerst
beliebt und selbstverständlich größtenteils in der
Notensammlung der Herzogin vertreten. Ihr Verlust ist nicht hoch
genug einzuschätzen. Erwähnt werden muss auch noch der
Bestand von rund 90 italienischen Opernpartituren, den die Herzogin
zusammengetragen hatte, darunter etliche Werke von Giovanni Paisiello,
die womöglich Unikate waren.
Was die Musikwelt beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek genau verloren
hat, das wird erst in den kommenden Monaten langsam ans Licht kommen,
war doch, wie Detlef Altenburg bemerkt, die Katalogisierung der
Sammlung unvollständig, ja lückenhaft: „Es handelte
sich um den sprichwörtlichen Schatz auf dem Dachboden, von
dessen wahrer Bedeutung man nur Ahnungen hatte.“