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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 41
53. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Neue Musik am Ort deutschen Schicksals
Das Kunstfest Weimar 2004 und sein Musikprogramm als Seismograph
Pèlerinages – Wandlungen. Abgeleitet von Franz Liszts
Klavierzyklus umschreibt dieses Motto die Dynamik, die das Kunstfest
Weimar im Jahre 2004 ausmacht. Wie auf einer Wanderung lassen sich
Themenbereiche durchstreifen, die dem „Rätsel Weimar“
auf der Spur sind, jenem deutschen Phänomen zwischen Verklärung
und Verdammung, dass sich in den Polen Goethe und Buchenwald am
deutlichsten manifestiert.
Vorher war das Weimarer Kunstfest eines von vielen, die mit oder
ohne Programm Besucher anlocken und Touristen- und Liebhaberströme
mobilisieren wollen. Bisher ging überregionale Anziehungskraft
von Gastspielen international renommierter Tanztheatergruppen aus,
zu denen sich in kleinerer Zahl und recht beliebig Veranstaltungen
aller Künste gesellten. Das aber waren Randerscheinungen, die
vielleicht sogar Alibifunktionen zu erfüllen hatten, um Vielfalt
vorzutäuschen. Nike Wagner, die neue Intendantin, Nachkommin
von Franz Liszt und Richard Wagner, dem künstlerischen Elitärdenken
ihrer Familie nahestehend und als Musik-, Theater- und Literaturwissenschaftlerin
befähigt, von diesem hohen Anspruch ausgehend Brücken
zu schlagen zum Kunst- und Kulturverständnis des Normalbürgers,
will Weimar als den Ort deutschen Schicksals schlechthin darstellen.
Von nun an wird die Mahnung an Buchenwald im Eröffnungskonzert
ganz oben stehen, wird Musik von Bach und Liszt an die schöpferischen
Epochen beider Komponisten erinnern, wird die Zeit der Klassik in
Gesprächen, Vorträgen und Lesungen auferstehen, werden
Ausstellungen, Tanzgastspiele, Theater und Filme mit Reminiszenzen
an Bauhaus, Weimarer Malerschule und Weimarer Verfassung weitere
Kontrapunkte setzen.
Wer heuer offenen Herzens gekommen ist, der wird in Konzerten
der Staatskapelle Weimar, des Bach-Ensembles von Joshua Rifkin und
des Meisterpianisten András Schiff, dem „Artist in
Residence“, etwas spüren vom apollinischen Geist des
Ortes, der wird aber auch in vielen Parallelveranstaltungen auf
die martialische Seite seiner Geschichte verwiesen. Von nun an wird,
in jedem Jahr neu, der Januskopf Weimar facettenreich durchleuchtet,
wird versucht werden, ihn in Entstehung und Wirkung zu entschlüsseln.
Dass dabei auch Musik unserer Zeit und deren direkte Vorläufer
wie ein Seismograph passgenaue Beiträge leisten kann, hat Nike
Wagner erkannt und schon die diesjährigen Besucher können
sich davon überzeugen.
Rückgeblendet in die 20er- und 30er-Jahre des vergangenen
Jahrhunderts tritt neben die Ausstellung „Kunst der Weimarer
Republik“ Musik der damals Ausgewanderten. In „Stimmen
der Emigranten“ kamen, gespielt vom ensemble recherche und
mit Otto Sander als Sprecher, kurze Werke von Schönberg, Adorno,
Korngold, Strawinsky, Hoffmann, Krenek und Eisler zur Aufführung.
Konfrontiert mit eigenen Wortäußerungen sowie denen von
Thomas Mann und Bertolt Brecht, kreisen sie um Begriffe wie „Fremde“
und „Heimweh“. Mit dieser als „entartete Kunst“
diffamierten, damals brandneuen Musik wird an nur in Deutschland
vorhandene Probleme erinnert. Hanns Eisler war ein spezieller Abend
gewidmet, an dem Heiner Goebbels mit dem Ensemble Modern in einer
großartigen, „Eisler-Material“ genannten Collage
einen Überblick gab über das sozialkritische Schaffen
des einstigen Schönberg-Schülers. Ihn aus der Ecke herauszuholen,
in der er seit der Komposition der DDR-Hymne abgestellt wurde, erscheint
heute notwendiger denn je. Es finden sich wahre Meisterwerke so
genannter Agit-Prop-Kultur unter den Liedern, wie etwa die „Wiegenlieder
einer Arbeitermutter“, „Vom Sprengen des Gartens“
oder „Anmut sparet nicht noch Mühe“, von Josef
Bierbichler ebenso meisterlich wie schlicht vorgetragen, sowie manches
Kammermusik- oder Orchesterwerk, auf das hier nur fragmentarisch
und in der Goebbel’schen Bearbeitung verfremdet hingewiesen
werden konnte, das nun seiner Wiederentdeckung entgegensehen dürfte.
„Heimweh nach alten Zeiten“ war das Motto des Konzertes
mit Kompositionen von Hans Werner Henze und Luigi Dallapiccola.
Beide sind, wie es im Programmheft ausdrücklich heißt,
„zerrissen zwischen Sehnsucht nach der Vergangenheit und Liebe
zur eigenen neuen musikalischen Sprache“. Zu erleben war dieser
Zwiespalt in Kammermusik, die im Gewand klassischer Formen wie Trio,
Sonate und Ciaconna daherkommt, insgesamt aber durch die Modernität
und durch expressionistische Ausdruckskraft polyphoner Strukturen
gekennzeichnet ist und so zumindest das gleiche Interesse verdient
wie die ultramodernen „Klassiker“ Luciano Berio und
John Cage. In der Matinee mit Kunstproben ihrer Werke, zu der Steffen
Schleiermacher eingeladen hatte, versuchte er als Moderator wie
als Pianist den Hörer auf die „Sequenzen“ beziehungsweise
die „Etudes Australes“ der beiden Avantgardisten einzustellen,
die sich aus allen Traditionen gelöst haben und nun einem Beliebigkeitssystem
von Tönen und Geräuschen anhängen. Mit humorigen
Worten und spannungsvoller pianistischer Zuständigkeit ist
ihm das gelungen, wie man an den vielen entspannt lächelnden
Gesichtern beobachten konnte.
Zu erwähnen sind weiter die Aufführungen des spektakulären,
ein wenig über den Hörer hinweg gehenden Liederzyklus
„Beiseit“ nach Robert Walser von Heinz Holliger und
der Auftritt des „Ensembles für intuitive Musik“
Weimar mit Musik von Karlheinz Stockhausen. Größte Aufmerksamkeit
aber erhielten die von der „jungen philharmonie thüringen“
unter Leitung von Hans Rotmann uraufgeführten Auftragswerke
des Kunstfestes. Steffen Schleiermacher stellte mit „Heim.
Weh.Nach.Liszt“ ein in vielen grellen Farben erstrahlendes,
abwechslungsreich gestaltetes Orchesterwerk vor, das durch im Raum
verteilte Bläser als Rückgriff auf alte venezianische
Musikpraxis vor allem durch fantasievolle Spielerei mit Liszt-Themen
und mehrdimensionalen Klängen für sich einnahm. Und Friedrich
Schenker nutzte mit „Les Trombones des Liszt“, die als
Erkennungsmelodie der nazistischen Wehrmachtsberichte verwendete
Fanfare aus „Les Préludes“, zu einer Abrechnung
mit der braunen Diktatur. Nach chaotischem Gerangel bliesen viele
Posaunen das „Dritte Reich“ förmlich „in
den Eimer“ – eine Performance, die durch Bild- und Symbolkraft
sowohl Heiterkeit als auch Beklemmung auszulösen vermochte.