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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 40
53. Jahrgang | Oktober
Oper & Konzert
Aufbruch ins Zentrum
Musikforschung international beim Weimarer Kongress
Norah Jones: Wer hätte gedacht, dass man ausgerechnet diesem
Namen auf einem musikwissenschaftlichen Kongress in Deutschland
mehrmals begegnen würde. Gerade mal zwei Jahre nach dem Sensationserfolg
ihres Debütalbums kam dieses Fräuleinwunder einer als
Jazz vermarkteter Musik schon zu der Ehre Gegenstand der Forschung
zu werden.
So klärte der Musikethnologe Lars-Christian Koch in seinem
interkulturellen Vergleich darüber auf, wie die Sängerin
in Indien analog zu den Stars der klassischen indischen Musik über
ihre „garana“, die von der Lehrer-Schüler-Beziehung
geprägte Traditionslinie vermarktet werde. Dass sich die Tochter
Ravi Shankars ausdrücklich von ihrem Vater und dessen Musik
distanziert hatte, spielte dabei keine Rolle, der konstruierte Mechanismus
griff dennoch, bis in die Einordnung ins entsprechende Regal eines
CD-Ladens hinein.
Einen anderen Blickwinkel nahm Monika Bloss ein, die Jones als
Vertreterin einer neuen Natürlichkeit im Umgang mit der Stimme
deutete. In Abgrenzung von den Verfremdungen und Maskierungen einer
Madonna sei bei ihr der Bruch zwischen Körper und Stimme gekittet,
ohne dass damit notwendigerweise die Rückkehr zu einem konservativen
Frauenbild verbunden sei. Man könne ihr das offen zur Schau
getragene Understatement bei der Einordnung ihres Erfolges durchaus
abnehmen, wenn sie sage, sie präsentiere Musik und nicht sich
selbst.
„Der Musikstar. Konstruktion oder Persönlichkeit?“
hieß das eine, „Stimme und Geschlechteridentitäten“
das andere Symposionsthema, das Raum für derlei Reflexionen
bot, und die Bandbreite der nicht immer gleichermaßen plausiblen
methodischen Zugriffe machte deutlich, welch unterschiedliche Herangehensweisen
das Kongressmotto „Musik und kulturelle Identität“
herausgefordert hatte. Die starke Präsenz von Vertretern anderer
Fachrichtungen (Geschichtswissenschaften, Soziologie, Mathematik,
Medizin et cetera) unterstrich den Anspruch, die Musikwissenschaft
am Anfang des 21. Jahrhunderts endlich da zu verorten, wo sie schon
seit einigen Jahrzehnten hingehörte: ins Zentrum der Kulturwissenschaften
und nicht an deren philologischen Randbezirk. Bei der professionellen
Außenwirkung der mit über 700 Teilnehmern fast schon
gigantomanen Veranstaltung konnte man gar den Eindruck gewinnen,
das Fach, das an manchen Universitäten mit dem Rücken
zur Wand steht, könne in Wahrheit vor Kraft nicht laufen. Dass
die inhaltliche Stringenz der Referate damit nicht immer Schritt
halten konnte, war da nicht weiter verwunderlich, umso erfreulicher,
dass die oftmals kompetenteren Diskussionsbeiträge aus dem
Publikum manche Schieflage wieder zurecht rückte.
In dem fast unüberschaubaren Programm erwiesen sich naturgemäß
diejenigen Fragestellungen als besonders fruchtbar und anschaulich,
die sich dem identitätsstiftenden Potenzial der Musik möglichst
direkt und konkret näherten: die Fallstudie eines heranwachsenden
Berliner Paares etwa, das sich ohne Instrumentalausbildung mit „Luftgitarre“
und „Bananenmikrofon“ musikalisch auszudrücken
versteht (Sabine Vogt); die Untersuchungen zu Jugendszenen und ihren
musikalischen Prägungen (Winfried Gebhardt aus soziologischer,
Klaus-Ernst Behne aus sozialpsychologischer Sicht); oder der Tango
argentino als Paradebeispiel einer Musik, die Menschen unterschiedlicher
ethnischer Herkunft eine gemeinsame Projektionsfläche bietet
und die Fremdheit zum Kriterium einer Gruppenzugehörigkeit
macht (Katja Grönke).
Erfreulich auch das Engagement für den wissenschaftlichen
Nachwuchs, dem im Rahmen des „Jungen Forum“ eigene Programmschwerpunkte
gewidmet waren, deren Ergebnisse sich in den kommenden Wochen zu
einem Memorandum zu „Konsequenzen für die Jugendbildung“
verdichten sollen. Auch eine eigene Fachgruppe innerhalb der Gesellschaft
für Musikforschung wird in diesem Zusammenhang eingerichtet.
Die Kooperation mit dem Weimarer Kunstfest „pèlerinages“
sorgte für ein hochkarätiges Begleitprogramm (darunter
ein herrlicher Mozartabend mit András Schiff und seiner Capella
Andrea Barca), das vonseiten des Kongresses mit Gesprächskonzerten
und einem spektakulären Auftritt der Kunqu-Operntruppe aus
China optimal auf das Kongressthema abgestimmt war. Es scheint sich
etwas zu bewegen in der deutschen Musikwissenschaft.