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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 17
53. Jahrgang | Oktober
Forum Musikpädagogik
Schiefe Geiger und zusammengeknautschte Handtücher
Zu Auswirkungen des Beckenschiefstands bei Instrumentalschülern
– Diagnose, Therapie, Prophylaxe
Semjon, ein ehemaliger Violinschüler von mir, damals 17 Jahre,
klagte eines Tages plötzlich über Schwindel und Rückenschmerzen,
fing an zu humpeln, außerdem konnte er die Töne auf der
E-Saite nur noch als verzerrende Schwingungen hören. Er rannte
von Arzt zu Arzt. Niemand konnte ihm helfen; ich damals auch noch
nicht. Er war ein begabter Junge, spielte Zigeunerweisen, wollte
Musik studieren, aber musste aufgrund dieser Belastungen vollkommen
mit dem Geigen aufhören, weil er das Spielen wegen der Tonverzerrungen
und Schmerzen nicht mehr ertrug. Wir waren beide verzweifelt.
Das Wirbelproblem ist für
Musiker existenziell. Eine Tabelle von L. Cross verdeutlicht
die Zusammenhänge. Nach Cross hat eine Röntgenuntersuchung
an 1.000 Erwachsenen gezeigt, dass lediglich 28 von ihnen
eine gerade Wirbelsäule, also keine Skoliose hatten.
Das sind weniger als drei Prozent.
Ich durchlebte Monate später ein ähnliches Martyrium,
ein schmerzhafter Irrweg, fast bis zur Berufsunfähigkeit, durch
verschiedenste medizinische, lediglich symptomorientierte Therapien,
bis ich nach Jahren endlich – wie ein Puzzle – durch
eigenes Hinterfragen, Lesen von medizinischer Fachliteratur, Lernen,
Ausprobieren sowie unzähligen Gesprächen mit Ärzten
verschiedenster Fachrichtungen, Heilpraktikern, Krankengymnasten,
Osteopathen et cetera, die eigentlichen Ursachen und Zusammenhänge
erkannte und eine Wende zum Guten einleiten konnte.
Mit meinem heutigen Wissen hätte ich Semjon die richtigen
Tipps und Adressen geben können, damit er seinen Traum von
einem Musikstudium nicht hätte aufgeben müssen.
Ich möchte Sie in diesem Artikel für das Problem des
kindlichen Beckenschiefstands sensibilisieren, das bisher oft noch
nicht ernstgenommen und als mögliches ursächliches Problem
von Beschwerden und Schmerzen in ganz anderen Körperregionen
schon bei Ihren Violinschülern, späteren Krankheiten oder
vorzeitiger Berufsunfähigkeit bei Profi-Musikern, rechtzeitig
schon im Kindesalter behandelt werden soll.
Beispiel aus der Praxis
Ein paar Beispiele aus meinem Violinunterricht innerhalb des letzten
Jahres. Diese Beschwerden der Schüler hätte man normalerweise
als Lehrer wohl nicht besonders beachtet, schließlich hat
ja jeder mal seine Zipperlein. Oder man hätte verschiedenste
methodische und psychologische Schatzkistlein geöffnet, einiges
ausprobiert, und wenn sich dann nichts verändert hätte,
unter Umständen den Rat gegeben, sich in der Freizeit mehr
zu bewegen, Sport zu treiben, nicht so viel Fernsehen zu gucken,
früher ins Bett zu gehen, Wärmflasche auf die schmerzenden
Stellen et cetera, wenn es denn trotz Arztbesuch gar nicht besser
geworden wäre, den Wechsel zu einem anderen Instrument vorgeschlagen
oder ihnen im äußersten Notfall nahegelegt, ganz aufzuhören.
Bei solchen Beschwerden und Symptomen werde ich inzwischen hellhörig.
Wie wären Sie mit den nachfolgenden Beispielen umgegangen?
Kimberley, 9 Jahre: Nach einem Sturz im Sportunterricht auf den
Rücken zunächst beschwerdefrei. Nach einer Woche sich
verschlimmernde beidseitige Schulterschmerzen. Die Geige hochzuheben,
tut ihr weh.
Nancy, 13 Jahre: Dauernde Beinschmerzen, will deswegen ständig
sitzen, X-Beine, wochenlange Übelkeit, wird immer lustloser,
Geige zu üben. Diagnose: Wachstumsschmerzen und die Übelkeit
wohl psychisch bedingt.
Annika, 11 Jahre: Plötzlich Schwindelanfälle bei ganz
normalen Bewegungen. Sie wird immer ängstlicher, traut sich
nichts mehr zu.
Charlotte, 12 Jahre: Beschwerden im mittleren Brustwirbelbereich,
Nacken und Vibrato verkrampft, Schulterhochstand links, möchte
Musik studieren.
Kyra, 8 Jahre: Mag nicht mit der linken Hand greifen, sondern möchte
nur auf leeren Saiten spielen, weil sie nach ein paar Tönen
sofort Unterarmschmerzen hat. Dehnübungen helfen nur kurzfristig.
Matthias, 18 Jahre: Will Musik studieren, kann seinen Kopf nicht
richtig zur rechten Seite drehen, Schmerzen im unteren Rücken,
Schulterhochstand links.
Johannes, 17 Jahre: Sportlich sehr aktiv. Nach Foul beim Fußballspielen
wochenlange Schmerzen im Gesäß und unterem Rückenbereich.
Jeder Atemzug tut ihm außerdem weh. Atmet deshalb nur noch
sehr flach, hält die Geige tiefer, Vibrato verkrampft zunehmend.
Georg, 10 Jahre: Nach Wechsel auf’s Gymnasium ständige
Kopfschmerzen ist dadurch in gereizter Stimmung. Laute Töne
werden ihm unangenehm.
Max, 10 Jahre: Ebenfalls Dauerkopfschmerzen und Schmerzen im linken
Oberarm.
Paul, 8 Jahre: Steht nach zwei Jahren Unterricht plötzlich
nur noch auf einem Standbein, kippt beim Geigespielen den Oberkörper
nach rechts. Linke Schulter höher als die andere. Schulter-
und Nackenmuskulatur verkrampft sich.
Wiebke, 13 Jahre: Die linke Schulter steht mindestens vier Zentimeter
höher als die andere. Extrem starke Wirbelsäulenverbiegung
(Skoliose).
Elisabeth, 9 Jahre: Sehfähigkeit der Augen verschlechtert
sich, mag deshalb nicht mehr nach Noten spielen, sondern nur noch
auswendig, soll Brille bekommen.
Louise, 12 Jahre: Nach Einsetzen einer festen Zahnspange Schmerz
im linken Wangen- und Kopfbereich. Geige festzuhalten wird als unangenehm
empfunden, Vibrato verkrampft sich.
Gustav, 10 Jahre: Ein richtiger Sportskerl, hat plötzlich
nach ein paar Minuten Violinspiel Rückenschmerzen, nimmt die
Geige herunter und kreist mit seinen Schultern, um sich zu entspannen.
Symptome ernst nehmen
Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich so viele Schüler
mit Zipperlein habe. Bitte glauben Sie nicht, dass ich so einen
katastrophalen, verkrampfenden Violinunterricht gebe, dass meine
Schüler ständig Schmerzen haben, im Gegenteil: Alle Kinder
sind heute beschwerdefrei und spielen begeistert weiter Geige, weil
ich sie und die ratlosen Eltern über den schon länger
bestehenden, oder jüngst erworbenen Beckenschiefstand, dessen
Folgen für den übrigen Körper und die Zusammenhänge
aufgeklärt habe und dadurch die jeweils notwendige Therapie
eingeleitet werden konnte. Aber wenn in meiner Violinklasse schon
so viele Kinder mit nicht ernstgenommenen oder ursächlich richtig
diagnostizierten Beschwerden und Schmerzen sind, wie hoch mag dann
die Dunkelziffer bei anderen sein. Die Schulärzte hierzulande
achten nicht unbedingt auf Beckenschiefstand – ganz im Gegensatz
zu Schweden.
Reihenuntersuchungen
In Stockholm hat der Chiropraktiker Ackermann vom Ackermann College
of Chiropractic noch zu seinen Lebzeiten die Behörden davon
überzeugen können, in den Schulen Reihenuntersuchungen
zu diesem Thema durchzuführen, um frühzeitig einen möglichen
Beckenschiefstand bei Kindern diagnostizieren und behandeln zu können
(zirka 40 bis 60 Prozent aller Schulkinder sind davon betroffen),
damit Spätschäden vermieden werden. So bleiben auch den
Krankenkassen Unsummen an Therapiekosten erspart. Bis dahin ist
es in Deutschland wohl noch ein weiter Weg.
Ich bin der Meinung, dass man auch als Instrumentallehrer über
einige anatomische Besonderheiten und Probleme Bescheid wissen sollte,
einfach deshalb, weil wir ständig mit dem Körper arbeiten,
er ein unverzichtbarer Teil des Musizierens ist und Störungen
sich direkt auf die Qualität des Unterrichts und Übens
auswirken, sie deshalb schon während des Wachstums korrigiert
werden sollten.
Als Schüler mit dem Instrumentalunterricht wegen unerklärlicher
Beschwerden aufzuhören, wie Semjon, ist für Lehrer wie
Kind ein frustrierendes Erlebnis. Als schmerzgeplagter Student zum
Musikmediziner zu gehen ist oft schon zu spät, da der Körper
dann schon ausgewachsen ist.
Sollte ich Sie neugierig gemacht haben, und da dieser Artikel
ein bestimmte Länge nicht überschreiten darf, möchte
ich Sie auf zwei Veranstaltungen hinweisen, bei denen ich Ihnen
in einem Vortrag und Workshop meine Erfahrungen weitergeben und
Ihnen erklären möchte, was ein Beckenschiefstand eigentlich
ist, dann seine möglichen Folgeschäden, ebenso die Auswirkungen
im übrigen Körper sowie im Instrumentalunterricht mit
Kindern.
Einfache Tests für Schüler
Danach möchte ich Ihnen ein paar einfache Tests erläutern,
wie Sie selber einen möglichen Beckenschiefstand bei Ihrem
Schüler erkennen können, Ihnen außerdem eine prophylaktische
Übung zeigen als Hilfe zur Selbsthilfe, und für Interessierte
auf weiterführende Therapie- und Fortbildungsmöglichkeiten
sowie auf vertiefende Literatur verweisen. Es ist mir eine Herzensangelegenheit,
Ihnen Querverbindungen und Zusammenhänge aufzuzeigen, damit
Sie die oft ratlosen Eltern aufklären und Ihren Schülern
helfen können, beschwerdefrei ihr Leben lang zu musizieren
und Ihnen von dieser Seite her die Begeisterung am Musizieren erhalten
bleibt.
Katharina Apostolidis
Aktuelle Veranstaltungen zum Thema
Kongress der ESTA (European String Teachers Association)
15.–17. Oktober 2004
Ort: Musikhochschule Stuttgart
Vortrag: 15.10 2004 um 17 Uhr, Workshop: 20 Uhr
Info-Tel.: 06131/47 95 68
Meisterkurs und mehr
11.–17. März 2005
Prof. Maria Egelhof (Violine), Katharina Apostolidis (Vortrag
und Workshop: 13. März 2005 um 10 Uhr)
Ort: Landesmusikakademie Neuwied-Engers, Info-Tel.: 02622/905
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