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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 14
53. Jahrgang | Oktober
Kulturpolitik
Das Wahre ist das Ganze, nur weiß das der NDR noch nicht
Die Initiative „Das Ganze Werk“ hält eine Versammlung
in Hannover ab · Reportage von Andreas Kolb
„19.30 Uhr in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St.
Johannis, Hannover, Rote Reihe 8.“ Dies steht auf meiner Einladung
zur Veranstaltung der Initiative „Das Ganze Werk“, zu
der ich als nmz-Redakteur und Medienpartner eingeladen bin. Mir
schießt der Vers eines Volksliedes durch den Kopf: „In
Hannover an der Leine, Rote Reihe Nummer acht, wohnt der Massenmörder
Haarmann, der die Leute umgebracht.“ Eigentlich auf den Spuren
des neuen NDR Kulturprogramms ergeben meine Recherchen ganz nebenbei,
dass Fritz Haarmann sein Unwesen in der Nummer vier trieb. Was sich
aber ganz offensichtlich nicht auf „umgebracht“ reimte.
Die Initiative „Das Ganze Werk“ hat zwar nichts Gewalttätiges
im Sinn, dennoch treibt sie seit ihrer Gründung Mitte Juni
eine Politik der Nadelstiche. Das Opfer: Der Norddeutsche Rundfunk,
genauer NDR Kultur.
Engagierter Gründer
des „Ganzen Werks“: Theodor Clostermann. Foto:
DGW
Der Grund: Die Kulturwelle des Norddeutschen Rundfunks strahlt
seit dem 1. Januar 2004 ein reformiertes Programm aus. Das ist zunächst
nichts Besonderes, Reformen der Kulturwellen kennt man aus allen
ARD-Anstalten. Einziger messbarer Erfolg sind Erhöhungen der
Zuhörerzahlen zwischen 0,1 und 0,6 Prozent im bundesweiten
Vergleich. Beim MDR gibt es sogar einen Rückgang um 0,4 Prozent
seit MDR Kultur als MDR Figaro an den Start ging. Hier im Norden
aber haben die Hörer, die nicht zufrieden sind mit dem Angebot
„ihres“ öffentlich-rechtlichen Senders, nicht nur
mit der Aus-Taste abgestimmt, sondern sich zu einer Initiative zusammengefunden.
Man wehrt sich dagegen, dass nach der Programmreform von Kompositionen
meist nur ein Satz gespielt wird. Oder nur Highlights – Betonung
liegt hier auf „light“ – wie etwa der 1. Satz
des Brandenburgischen Konzerts. Die Hauptforderung der Hörerinitiative
lautet: NDR Kultur solle täglich zwischen 6 und 19 Uhr „mindestens
vier Stunden lang Musiksendungen bringen“ und „die Kompositionen
so weit wie möglich vollständig erklingen lassen“.
Der Initiator von „Das Ganze Werk“ ist persönlich
anwesend: Theodor Clostermann, im bürgerlichen Beruf Lehrer,
ehrenamtlich Präsident der Hamburger Telemann-Gesellschaft
und privat leidenschaftlicher Konzerthörer und Sammler von
Mitschnitten. Ich treffe ihn bei den Vorbereitungen für seinen
Vortrag an. Der Beamer zeigt seitenlang Musiklisten von NDR Kultur
in kleiner Schrift.
Meine Befürchtungen zu einer langweiligen Informationsveranstaltung
gekommen zu sein, werden sich später nicht bewahrheiten, dafür
sorgen die anwesenden Zuhörer und Gäste, etwa 40 an der
Zahl. Bevor es losgeht, wechseln wir ein paar Worte über den
Internetauftritt von „das ganze Werk“: „Inzwischen
klicken täglich etwa 130 Besucher auf die Homepage“,
kann ich Theodor Clostermann berichten. Damit kann man zufrieden
sein, schließlich steht die Seite erst seit Anfang August
im Netz. Dass es die Seite gibt, ist der Medienpartnerschaft zwischen
nmz und „Das Ganze Werk“ zu verdanken. Nachdem sich
Clostermann direkt an den Herausgeber der nmz, Theo Geißler,
gewandt hatte, ergriff dieser die Initiative und stellte dem „Ganzen
Werk“ kostenfrei Serverplatz zur Verfügung. nmz-Webmaster
Martin Hufner entwarf ein Grundlayout, das Theodor Clostermann betreut
und aktualisiert.
Zurück in den Nebenraum der Johanniskirche: Nachdem Clostermann
eine kleine Chronologie seiner Aktivitäten vorgetragen hat,
beginnt eine lebhafte Diskussion. Der Schriftsteller und ehemalige
NDR-Redakteur Eike Christian Hirsch sagt, er könne als ehemaliger
NDR-Mitarbeiter nichts sagen, denn er wolle kein Lafontaine des
NDR werden – und sagt damit viel. Beinahe alle der anwesenden
Hörer zählen zur Altersgruppe der über 50-Jährigen
– im neuen Programm von NDR-Kultur fühlt sich von ihnen
keiner mehr repräsentiert und außerdem vom seichten Unterhaltungston
unterfordert.
Gegen Ende gibt sich Michael Plöger von der NDR Programmdirektion
Hörfunk zu erkennen und stellt seine Sicht der Dinge dar. Die
Einladung an „Das Ganze Werk“ zu einer Diskussionsrunde
in der Sendung „Im Gespräch“ (jeden Samstag 18.05
bis 18.30 Uhr) über das Programm von NDR Kultur bleibe weiter
bestehen, betont er, allerdings nur zu den üblichen Redaktionsbedingungen,
das heißt keine Liveübertragung und nur mit einem einzigen
Vertreter der Initiative. Mit auf dem Podium wären die Wellenchefin
und Leiterin von NDR Kultur, Barbara Mirow, sowie der frühere
Chef der Hamburger Hochschule für Musik und darstellende Kunst,
Hermann Rauhe. Moderator wäre der Kulturchef von NDR Fernsehen,
Thomas Schreiber. Noch zögert Clostermann, zu diesen Bedingungen
die Debatte aufzunehmen, er befürchtet, an die Wand gefahren
zu werden. Ein solidarischer Gastbeitrag kommt an diesem Abend von
Regina Dietzold von der Bremer Hörerinitiative „Hörsturz“:
Sie berichtet vom Kampf gegen den ratenweisen Abbau von Radio Bremen
seit der Reform von 2001.
Auch nach über zwei Stunden herrscht noch Protest- und Aufbruchstimmung
im Saal: Bereits für den Oktober sei die nächste Aktion
geplant, erläutert Clostermann. Dann soll es bedruckte Postkarten
geben, die an den NDR verschickt werden können und auf denen
die zentrale Forderung von „Das Ganze Werk“ zu lesen
ist: Mindestens vier Stunden am Tag vollständige Kompositionen.