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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 35
53. Jahrgang | Oktober
Landesmusikräte
Nachfrage nach musikalischer Kultur ist stabil
Rainer Dollase wirbt für mehr Selbstbewusstsein bei Pädagogen
und Musikschaffenden
Rainer Dollase, Professor für Psychologie an der Universität
Bielefeld, versuchte im Tagungsteil der Jahresversammlung des Landesmusikrates
NRW in der Philharmonie Essen die Ängste vieler Zuhörer
vor dem Schwinden der Bedeutung von Musik und musikalischer Bildung
in unserer Gesellschaft zu zerstreuen. In seinem Referat „Die
guten alten Zeiten sind vorbei – Musikalische Bildung im Visier
der aktuellen Schul- und Bildungspolitik“ stellte er zunächst
die Frage nach der Legitimation der musikalischen Hochkultur. Durch
die Verschlechterung der ökonomischen Situation und das schlechte
Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie habe sich der Legitimationsdruck
auf die Hochkultur verschärft. Dabei müsse bei musikalischer
Bildung von einer „Multi-Effektivität“ ausgegangen
werden, sozialisierende und erzieherische Effekte sowie Einflüsse
auf die Funktionsfähigkeit des Gehirns (zum Beispiel „Mozart-Effekt“)
seien wissenschaftlich belegt.
Der pessimistischen Einstellung, der Hochkultur wachse nicht genügend
neues Publikum nach, stellte Dollase die These von der Nicht-Umkehrbarkeit
der zivilisatorischen Evolution entgegen. Die Nachfrage von musikalischer
Kultur sei stabil, da es sich um ein natürliches Bedürfnis
handele, das nicht plötzlich wegbrechen könne. Das Konzertpublikum
wachse nach, auch wenn es sich häufig erst in älteren
Jahren dieser komplexen Art von Musik zuwende, weil sie eine längere
Hörerfahrung voraussetze. Umfragen in der breiten Bevölkerung
hätten zudem eine mehrheitliche Befürwortung der Subvention
von Hochkultur ergeben.
Da die musikalische Kultur sich nicht Zufälligkeiten verdanke,
stelle sie einen Wirtschaftsfaktor dar, mit dem man rechnen könne.
Eine verstärkte politische Arbeit der Musikverbände sei
notwendig, da Musikkulturen durch die Globalisierung verteilt und
verlagert würden. Man solle sich daher auf die eigenen Stärken
besinnen, auf Alleinstellungsmerkmale und mögliche Positionierungen
im Markt. So habe man zum Beispiel versäumt, musikpädagogische
„Exzellenzen“ international zu etablieren; die musikpädagogische
Forschung in Deutschland sei nicht in den internationalen Datenbanken
verschlagwortet und werde daher international nicht in ihrer herausragenden
Bedeutung wahrgenommen.
Schelte gab es von Prof. Dollase für die NRW-Bildungspolitik.
Pseudo-Modernität zerstöre Qualität. Für gute
Leistungen der Schüler seien in erster Linie die pädagogische
Kompetenz der Lehrer und transparente Leistungskriterien verantwortlich.
Gelernt werde in erster Linie durch Beziehungen und die Bindung
an die Lehrer. Hauptanliegen müssten daher begeisterungsfähige
Musiklehrer sein, die Vorbild sein könnten. Nur guter Musikunterricht
könne Akzeptanz erzeugen.
In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von Theo Geißler
moderiert wurde, gingen Prof. Dr. Rainer Dollase, Prof. Karl Karst
(Programmchef von WDR 3), Christian Höppner (Generalsekretär
des Deutschen Musikrates) sowie Prof. Dr. Werner Lohmann (Präsident
des Landesmusikrates NRW) der Frage nach, inwieweit die Musik künftig
„politischer“ werden müsse. Es wurde die Auffassung
vertreten, dass die Musikverbände in der Vergangenheit vielmehr
fachpolitisch als gesamtgesellschaftlich gedacht hätten, jetzt
gelte es, in der Öffentlichkeit Bewusstsein zu schaffen. PISA
sei insofern missverstanden worden, als daraus die Notwendigkeit
abgeleitet worden sei, man müsse die Kernfächer stärken.
Es solle vielmehr auf Musik als „Lebensmittel“ hingewiesen
werden. Die große Diskrepanz zwischen Sonntagsreden und „Montagshandeln“
von Politikern wurde beklagt. Die Veranstaltung wurde im Rahmen
der Kulturpartnerschaft des Landesmusikrates NRW mit dem WDR 3 aufgezeichnet
und im Zusammenschnitt im „Kulturpolitischen Forum“
gesendet.