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nmz 2004/10 | Seite 9
53. Jahrgang | Oktober
Magazin
Laternen lassen Ramallah aufleuchten
Musical mit Kindern aus aller Welt · Von Noam Ben Ze’ev
Palästinensische Künstler hatten vor drei Jahren die
Idee, ein umfangreiches, echtes, professionelles Musical zu produzieren:
so wurde „Fawanees“ („Laternen“) geboren.
Uraufführung war im August 2004 in Ramallah.
Wie sieht eine Kindheit ohne Musik aus? Wie sieht eine Welt für
Kinder aus, die in der Schule nicht lernen dürfen, wie man
der Musik lauscht, ein Instrument lernt oder in einem Chor singt?
Wenige werden später in der Lage sein, sich als Erwachsene
durch Musik auszudrücken. In solch einer Welt bleiben Begriffe
wie „Konzert“, „Oper“ und „Musical“
für Kinder, die nie vor einer Bühne gesessen und den Darstellern
applaudiert haben, unbekannt. Und der Gedanke, selbst auf der Bühne
zu erscheinen und vor einem Publikum zu handeln, zu singen und Musik
zu machen und Beifall zu erhalten, kommt ihnen gar nicht erst in
den Sinn.
„Fawanees“.
Foto: Steve Sabella
Doch jeder, der den Wert musikalischer Erziehung kennt, weiß,
welche Bedeutung und welchen Reichtum sie schenken kann. Aus dieser
Erkenntnis über den Wert der Musik und ihre Bedeutung für
Kinder und allgemein für die Gesellschaft wurde vor zehn Jahren
ein palästinensisches Konservatorium gegründet. Das Nationale
Konservatorium hat seinen Sitz in Ost-Jerusalem und zwei Filialen,
eine in Ramallah und eine andere in Bethlehem. Dort lernen 440 Schüler
ein Musikinstrument spielen.
Vor drei Jahren entschied man sich, dass dies nicht genügt:
die Kinder sollen auch in den darstellenden Künsten unterrichtet
werden. Auf einer Konferenz palästinensischer Künstler
wurde die Idee für eine großangelegte professionelle
Musical-Produktion geboren, die es ermöglicht, dass viele Kinder
mitspielen und Tausende Leute diese Aufführung ansehen. Dies
ist die Geschichte der Geburt von „Fawanees“ („Laternen“)
– dem ersten palästinensischen Musical. Die Konzerthalle
im Kulturzentrum mit rund 700 Plätzen, „Ramallahs Heiligtum“,
hatte man erst zwei Monate vorher eingeweiht und war nun sieben
Mal ausverkauft. Sie liegt über einer wilden, hügeligen
Landschaft am Rande der Stadt. Ihre Akustik ist sanft und angenehm
für die Ohren und ihre guten Proportionen bieten auch dem Auge
etwas. Sie ist mit bequemen Sitzen ausstaffiert sowie mit modernem
Ton- und Lichtsystem. Sie hat sogar ein mobiles Aufnahmestudio und
ein spezielles Kontrollpanel, um die Elektronik zu überschauen
– genau wie in raffinierten europäischen Konzerthallen.
Bring die Sonne!
„Fawanees“ gründet sich auf ein Kinderbuch von
Ghassan Kanafani, einem palästinensischen Schriftsteller und
Essayisten, der 1936 in Akko geboren, 1948 ein Flüchtling wurde,
nach Beirut und Damaskus, wo er arabische Literatur an der Universität
studierte, und schließlich nach Kuweit weiterzog. Kanafani
war der erste palästinensische politische Schriftsteller, und
einige seiner vielen Bücher und Kurzgeschichten sind sogar
auf Hebräisch erschienen.
„Die kleine Laterne“ ist von Wasin Kurdi, einem in
Ramallah lebenden Dichter, in ein Musical mit 28 Liedern für
Chor, Duette und Solisten umgeschrieben worden. Das Stück,
das vor zwölf Jahren schon in Jenin aufgeführt und in
Juliano Mers Film „Arnas Kinder“ dokumentiert wurde,
erzählt die Geschichte eines Königs, der im Sterben liegt,
zuvor seine Tochter, die Prinzessin, aber noch auffordert, die Sonne
in den Palast zu bringen, sonst könne sie nicht Königin
sein und das Königreich regieren. Nach seinem Tod versucht
die Tochter, seinen Wunsch zu erfüllen, was ihr aber nicht
gelingt. Sie verzweifelt. Eines Tages kommt ein alter Mann mit einer
Laterne zum Palasttor und bittet um Einlass. Die Tochter verweigert
ihm den Zutritt: „Wie magst du nur die Sonne hier hereinbringen,
wenn du nicht einmal einem alten Mann mit einer Laterne den Zutritt
gewährst?“ fragt er – und ist verschwunden.
Der Prinzessin wird nun bewusst, dass ihr ein Wink gegeben worden
ist. Sie versucht, den wundersamen Mann zu finden, aber vergeblich.
Deshalb fordert sie alle Laternenträger des Königreichs
auf, in den Palast zu kommen. Tausende von ihnen versammeln sich
vor der schmalen Öffnung in der Mauer. Es gelingt ihnen nicht,
hineinzukommen. Die Prinzessin befiehlt: „Zerstört die
Palastmauern!“ Nach dem Fall der Mauern kann jeder eintreten.
Damit sind auch die inneren Mauern in sich zusammengefallen, die
sie um sich selbst gebaut hat. Das Licht der Laternen, das die Leute
mitgebracht haben, wächst und wächst und wird so hell
wie die Sonne – so erfüllt sich das Vermächtnis
ihres Vaters. Und was die Trümmer der Mauern betrifft –
sie werden dazu verwendet, um Schulen und Krankenhäuser zu
bauen, die dem Wohl aller Bewohner dienen.
Internationale Mannschaft
„Mit dem Schreiben der Musik begann ich vor zwei Jahren,“
sagt Suhail Khouri, der die Partitur für das Musical schrieb.
„Und das musikalische Ergebnis reflektiert meinen Wunsch,
mehrere Musikstile mit einander zu verbinden.“ Und tatsächlich
ist es möglich, in „Fawanees“ neben der Musik mit
westlich harmonischen Strukturen im Geist populärer Musicals
auch die Klangfarben der östlichen Musik herauszuhören,
auch Swing und sogar ein Solo in traditioneller arabischer Musik,
in arabischer Tonart. Khouri – aus Ost-Jerusalem – begann
mit sieben mit Musikunterricht. Schon sehr früh fuhr er von
Jerusalem nach Ramallah, um Klarinette zu lernen. Er beendete sein
Musikstudium in klassischer Musik an der Musikhochschule der Universität
von Iowa (USA). Nun wendet er sich mehr und mehr der arabischen
Musik zu. Unter anderem ist er Mitglied des orientalischen Musikensembles,
für das er auch komponiert. Doch gibt er zu, dass er Musicals
besonders liebt, von denen er schon viele gesehen hat: „Cats“
und „Annie get your gun“ und „Les Miserables“…
Was ihn an Kanafanis Geschichte angezogen hat, beschreibt Khouri
so: „Die vielen Deutungen, die man darin entdecken kann, außer
der Kernhandlung. Kanafani schrieb sein Buch vor mehr als 30 Jahren,
und er bezog es auf die palästinensische Realität . Das
spiegelt sich natürlich auch in der Geschichte von heute wieder.“
Die Spielmannschaft von „Fawanees“ kommt aus aller
Welt, die Instrumentation stammt von Bishara Khell aus Nazareth,
der Direktor ist Fernando Nope aus Schweden, das Lichtdesign machte
Philippe Andrieux aus Frankreich; der Tonmeister ist Issam Murad
aus Ost-Jerusalem.
Auf der Bühne sind mehr als 100 Leute, einschließlich
eines Kammerorchesters, „Das junge Musikforum Mitteleuropas“.
Das Orchester – von Christoph Altstädt dirigiert –
kam aus Deutschland – allerdings nicht ohne Hindernisse: Nach
dem Offizielle am Ben-Gurion-Flughafen das Ziel der Gruppe erfuhren,
wollte man den Spielern den Zugang nach Israel verbieten und befahl
ihnen die Rückkehr. Nur energische Intervention bei Botschaften
in Israel und Deutschland rettete schließlich die Musiker,
nachdem sie fünf Stunden lang reale Ängste ausgestanden
hatten.
Glückliches ruhiges Ende
Wenn es wirklich etwas Wunderbares über „Fawanees“
zu sagen gibt, so ist es das hohe Niveau beim Singen, das von den
Mitgliedern des Shams-Chores ausgeführt wurde. Anderthalb Jahre
intensiver Arbeit machte aus den 58 Kindern, die Mitglieder des
Chores sind und niemals vorher auf einer Bühne gestanden waren,
zu gewandten Schauspielern. Sie wussten, wie man den Platz der Bühne
ausfüllte, wie man koordiniert handelt und tanzt, und wie man
die Menge der Requisiten anwendet.
Aber über allem schwebte ihre vokale und musikalische Leistung.
Ihr sauberes und klares Singen, ihre Fähigkeit zweistimmig
zu singen und die Natürlichkeit, mit der die Kinder sich in
das pausenlose und komplizierte Spiel des Orchesters integrierten,
lässt einen irrtümlich an einen Chor mit viel Erfahrung
denken.
Die Einstudierung hatte die palästinensische Chorleiterin
Hania Soudah-Sabbara übernommen. „Das Musical ist die
erste vokale Erfahrung der Kinder – wir sprangen direkt wie
in tiefes Wasser,“ sagte Soudah-Sabbara. „Nun werde
ich Zeit haben, ihren Horizont zu erweitern und ihr Repertoire zu
entwickeln. „Fawanees“ endete in festlicher aber ruhiger
Weise. „Ich wollte kein bombastisches Finale“, sagte
Suhail Khouri, „und ich musste die Idee verteidigen, weil
viele Leute anders dachten. Ich wollte Einfachheit und Ruhe, so
dass die Leute in der Lage sind, das Theater zu verlassen und sich
nicht nur am ,happy end‘ erfreuten, sondern sich danach auch
Fragen stellten.“