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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 8
53. Jahrgang | Oktober
Portrait
Ein Rucksack voller Sinuswellen
Wurf neuer Musikästhetik zwischen Gartenschau und Mikroelektronik
aus Leipzig
In elegantem Rosa fällt das Licht und streut auf einen jungen
Mann. Dieser sitzt an einem mit beinahe unsagbaren Utensilien belegten
Tisch und gibt ein hochkonzentriertes Spiel.
Zarte Lyrik kommentiert
die Verwendung der Instrumente: „sinebag“. Foto:
nmz
„Sinebag“, unter bürgerlichem Namen Alexander
Schubert in Leipzig lebend, produziert eine Musik wirklich pitturesken
Hörens. Ein verweisungsträchtiges Netz aus Klang-, Objekt-
und Bildkunst sowie Poesie gilt es zu entdecken. Mittels kleiner
Kontaktmikrophone äußert sich etwa eine Luftverpackungsfolie
über Laptop-generiertem Reverb, eine kleine Plastikdose mit
Nägeln über Distorsion und eine pappige Schachtel Reis
über ein Delay. Den Klang eines braunen Backgammon-Spiels schöpft
dieser eigentümliche Musiker, Steinchen und Würfel auf
verschiedenen Böden werfend, aus. Agrar und Anbau einer Musik
auf dem Spielbrett. Als „sinebag“ plötzlich auf
einem Kissen oder einer Matratze herumhüpft, werden diese physischen
Impulse durch Gesangsmikrophone zu einem digital programmierten
Tonhöhenmodulator weitergereicht. Die Handhabung der Effekte
erfolgt mit einem Regler am Keyboard. Das Ganze ist sorgfältig
inszeniert und eingeleuchtet. So gelingt es „sinebag“
die magische Bereitschaft der Dinge zu offenbaren, zu wirbeln, sie
zu ekstatuieren. Ein bisschen Freejazz für das 21. Jahrhundert.
Oder wie Steve Beresford: Gegenstände berühren. Der Welt
entnimmt „sinebag“ so eine ganz eigene Ausstattung.
Wird diese Musik als postmoderner Entwurf diskutiert, fällt
auf, dass der Autor in der Massenkultur des Pop nicht etwa verschwunden,
sondern bloß digital verrückt ist.
Was live spielerisch passiert, ist zum Einen Ernte täglicher
Kompositionsarbeit, hinsichtlich struktureller Gestaltung und der
Erforschung von Klängen, zum Andern Grund gelegt durch den
schieren Möglichkeitsraum digitaler Kultur. Was im 20. Jahrhundert
die Tendenzen der Neuen, die Innovationen der improvisierten und
das Revolutionäre der elektronischen Musik fuhr, gerinnt hier
zu einem in dieser Stärke unerwarteten individuellen Wurf.
Im autodidaktischen Umgang mit Musik ist „sinebag“ ein
Konzept gelungen, welches das Potential besitzt zur Neudefinition
des Verhältnisses von Natürlichem und Menschengemachtem,
welches sich als Aktualisierung sinnlichen Bewusstseins und zugleich
als Aktualisierung künstlerischer Erkenntnis fassen lässt.
Leichte organisch-naturale Sphären, Wald und leise Tritte versammeln
sich in einem Raum mit dem Geräusch derzeitiger Kommunikationsmittel.
Am intensivsten ist dies „sinebag“ bisher bei „Milchwolken
in Teein“ gelungen. Die 50-minütige Musik ist 2003 von
dem Berliner Label „Pulsmusik“ verlegt. Als Pendel zwischen
organischen und elektronischen Klängen stiftet das Album Verwandtschaft
zwischen Vögeln, Gitarre, elektrischer Orgel und digital synthetisierten
Klängen. „sinebag“ stiftet einen Raum für
gegenwärtige Erfahrung. Naturgeräusche landen als Nullen
und Einsen im Laptop. Sie werden digital vermittelt und im Spannungsfeld
von selbst gefertigten Instrumenten wahrnehmbar gemacht und kreativ
hinterfragt. Die Virtuosität instrumentalen Spiels scheint
an einen zarten, fragilen Endpunkt angelangt. Eine Reduktion, deren
Aktualität als musikalische Strategie unlängst auch Peter
Niklas Wilson auffiel. Wesentliche Kontur bekommen die Kompositionen,
wenn sie sich zu Text und Bild verhalten. Neben konventionellen
Bildtypen, produziert „sinebag“ sowohl bildnerische
Arbeiten, die experimentell in den öffentlichen Raum eindringen,
als auch speziellere Versuche zu bildnerisch-klanglichen Intermedialität.
Zarte Lyrik, oft schwach mit Blei oder Pastell auf den Grund gelegt,
kommentiert die Verwendung der Instrumente und die subtile Wahrnehmung
– respektive Konstruktion – der Klänge. Dabei überschwimmen
Worte in klangliche Texturen, umspielen Wörter Noten.
Verlässt „sinebag“ sein digital-technisiertes,
aber ebenso von Naturfarben und -reliquien durchzogenes Experimentallabor,
so begibt er sich wahrscheinlich als Alexander Schubert an die Universität
Leipzig und pflegt wissenschaftlichen Umgang mit dem Doppelstrom,
der allgegenwärtig sein künstlerisches Schaffen durchdringt,
bringt biologisches und informationstechnisches System zusammen.
Labelchef Patrick Amelung arbeitet selbst als „Trikband“
an einigen interessanten elektronischen Kompositionen, die im MP3-EP-Format
im Internet erscheinen. Auf die Wurzeln des Konzeptes „Pulsmusik“
hin gefragt, verweist Amelung, studierter Mediendesigner, gerne
auf Morton Feldman oder Ornette Coleman hin, auf ihre revolutionäre
Befreiung des Rhythmus. Dabei mag man Feldmans Verwendung repetetiver
Strukturen weniger als Gegenpol zur gegenwärtigen, auf reproduktive
Organisation basierende populäre Musikkultur betrachten, sondern
eher als deren Vorreiter. „Pulsmusik“ von Schubert aber
ist so eigenständig, dass sie sich auch mit der schweizerischen
Saxophon-Avantgardefigur Urs Leimgruber auf der Bühne treffen
kann.