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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 46
53. Jahrgang | Oktober
Bücher
Von der Rollenerwartung an den Künstler
Johannes Brahms und die Entkirchlichung der Religiosität
Jan Brachmann: Kunst – Religion – Krise. Der
Fall Brahms (Musiksoziologie, Bd. 12), Bärenreiter-Verlag,
Kassel u.a. 2003, € 34,95, ISBN 3-7618-1361-9
„Ein Werk, was sich in voller Schönheit darstellt, wirkt
dadurch schon erhebend, trägt seine eigne Religion in sich
und braucht nicht danach borgen zu gehen.“ Das Urteil, das
Philipp Spitta in einem Brief an Johannes Brahms über dessen
„Deutsches Requiem“ äußerte, ist bezeichnend
für eine ganze Epoche – eine Epoche, die 1882 wie mit
einem Paukenschlag durch Friedrich Nietzsches „Gott ist todt!
Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“ charakterisiert
wurde. In Jan Brachmanns Buch geht es um die Krise der Religion
im 19. Jahrhundert, die eng verzahnt ist mit der Stilisierung einer
„Kunstreligion“. Die Künste, ganz besonders die
Musik, übernahmen Funktionen, die bislang der Religion vorbehalten
waren. Im Schrifttum der Zeit wird die Musik zunehmend mit sakralen
Begriffen bedacht, Musiker/-innen werden zu „Hohenpriestern
der Kunst“, Konzerte zum transzendentalen Erlebnis.
Dieses Phänomen betrifft Johannes Brahms in besonderer Weise,
hat er doch unter den „kanonisierten“ Komponisten des
19. Jahrhunderts nach Felix Mendelssohn Bartholdy die meisten Werke
auf Bibel- und Choraltexte geschrieben. Zudem zieht sich die Frage
der Religiosität wie ein Leitfaden durch seine Biographie –
wobei seine scheinbar widersprüchliche Haltung zu Religion
und Christentum für Urteile von „kern-protestantisch,
aber nicht kirchlich“ bis zu „dem Wortlaut nach biblisch,
aber nihilistisch oder atheistisch“ gesorgt haben. Ausgehend
von dieser Widersprüchlichkeit wählt Jan Brachmann einen
soziologischen Ansatz, der mehrere weitere Disziplinen berücksichtigt,
um sich dem Phänomen der Kunstreligion im 19. Jahrhundert zu
nähern und es auf die Musik von Johannes Brahms zu beziehen.
In einem umfangreichen ersten Teil stellt er die Religionskrise
im 19. Jahrhundert als Grundbedingung für die Herausbildung
einer Kunst- und Bildungsreligion dar. Beeindruckend dabei sein
breites Wissen, sein profundes Eingehen auf religionssoziologische,
gesellschaftskritische und theologische Fragen. Brachmanns Rückgriff
auf ausgewählte Literatur aus diesen Disziplinen ist stets
reflektiert und logisch begründet: So greift er auf Vertreter
der dialektischen Theologie des 20. Jahrhunderts zurück, um
im Kontrast ihrer Kritik die Kunst- und Bildungsreligiosität
des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. (Wichtig wäre hier allerdings
der Hinweis, dass Brachmann sich ausschließlich auf den Protestantismus
bezieht. Der Katholizismus, der wesentliche Aspekte der Religionskrise
im 19. Jahrhundert teilt, sich im Laufe des Jahrhunderts jedoch
ganz anders entwickelt als der Protestantismus und in zunehmenden
Gegensatz dazu gerät, bleibt in dieser Studie gänzlich
ausgeklammert.) Ganz nebenbei bietet Brachmann außerdem einen
Überblick über wesentliche Aspekte des romantischen Denkens
– Idealismus, Liberalismus, Ironie, Ästhetisierung der
Heilserwartung – und bindet sie ein in seine Darstellung einer
generellen Entkirchlichung der Religiosität. Seinem Ansatz
gemäß insistiert er immer wieder auf die sozialen Konsequenzen
dieses Prozesses: die „religiöse Scham“ als soziale
Kontrolle über das öffentliche Reden und Praktizieren
von Religiosität, andererseits die Rollenerwartung an den Künstler,
dessen Werk einige der Funktionen zugewiesen wurden, die vormals
im Bereich der Religion angesiedelt waren. Vor diesem Hintergrund
geht Jan Brachmann detailliert auf die Biographie und das Schaffen
von Johannes Brahms ein. Sein besonderer Beitrag zur bereits bestehenden
Brahmsforschung ist einerseits die exzellente soziologische Rückbindung,
andererseits seine genaue Untersuchung der Lektürespuren in
Brahms’ Bibliothek und der Nachweise einer individuellen religiösen
Prägung in Brahms’ Notizbüchern. Die Erkenntnisse
werden in detaillierter Analyse bestimmter Ausschnitte auf die Kompositionen
von Brahms übertragen, und zwar weniger auf die geistlichen
Werke, als auf die Instrumentalmusik, die in der Autonomieästhetik
des 19. Jahrhunderts den ersten Rang einnahm. Seine Zielsetzung,
diese Kompositionen „als eine bestimmte Weise der Reflexion
auf die Probleme von Kunst als säkularer Religion und auf die
Probleme einer religiös bestimmten Lebensführung in der
„Moderne“ zu begreifen (S. 34), löst Brachmann
mit diesen knappen Analysen überzeugend ein. Die Kapitel über
„Ahnenbeschwörung“ und „Musik als Trost und
Kontingenzbewältigung“ scheinen zunächst aus der
stringenten Anlage des Buches herauszufallen, zumal mit ihren umfangreichen
sozial- und religionspsychologischen Einführungen, deren Bezug
zu Brahms zunächst nicht klar wird. Im Rückblick erweisen
sich jedoch auch diese Aspekte in Brahms’ Schaffen als religiöse
Funktionen seiner Musik.
Die abschließende „Gretchenfrage“ nach Brahms’
Religiosität scheint angesichts der vielen Widersprüche
zunächst offen zu bleiben – bis Brachmann auf Grund seiner
eingehenden Studien Merkmale formuliert, die bei Brahms einen „Typus
von Religion, der sich gegen die Indienstnahme für eine klassische
soziale Funktion [die ,Umweltstabilisierung‘] sperrt“
(S. 459), erkennen lassen. Der innovativste Zug in Brachmanns beeindruckender
Darstellung ist die leitmotivartige Kritik an der – noch immer
vorherrschenden – Vorstellung einer „autonomen“,
das heißt funktionsfreien Musik und somit eines a-sozialen
Kunstbegriffs im 19. Jahrhundert – eine Vorstellung, hinter
der sich tatsächlich eine wesentliche soziale Funktionalität
dieses Kunstbegriffes verbirgt, diente er doch dazu, latente religiöse
Funktionen der Kunst zu kaschieren. Wer sich fortan mit dem Phänomen
der Kunstreligion und Ästhetik einer „autonomen“
Musik im 19. Jahrhundert beschäftigt, wird an Jan Brachmanns
Buch nicht mehr vorbeikommen.