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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 42
53. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Dem Weihnachtsgeschäft ein Schnippchen schlagen
Prä-adventale Pop-CDs ohne Lametta und der Zeit voraus
Ein grauenhafter Sommer schließt die Pforten, ein rabiater
Winter naht und die letzten vorweihnachtlich ernst zu nehmenden
Veröffentlichungen (ohne Best-of-Charakter) drängen in
den dreigeteilten BMG-Markt zwischen Armen-, Mittelstands- und Reichen-CD.
Politisch wütend tragen R.E.M. ihr 13. Studioalbum fast zur
US-Präsidentenwahl in die Welt. Sänger Michael Stipe macht
aus seiner Verbitterung keinen Hehl. Obwohl die 13 Songs spartanisch
im Instrumental-Sinn bleiben, wehmütig mahnen und selten die
Spaßbremse lösen, erwirken R.E.M. einen enormen Wiedererkennungsfaktor
und Beschäftigungsdrang. Perfekte Musik ohne Zweifel. Lauter,
brutal und den Finger wissend in die Wunden legend präsentieren
Green Day ihren „American Idiot“. Eine Punk-Oper, ein
Maßstab für alle Punk-Fraktionen dieser Welt. Green Day
bieten knallharte Politik, Beach Boys-Sound und ein Konzeptalbum
in versteckten Akten vom barbarischen Punk bis zur kaltblütigen
Endzwanziger-Hymne mit Unterhaltung im politischen Musik-Kabarett.
Unverzichtbar gut. Über die Talking Heads ließe sich
ausschweifen, auch über deren Ex-Vordenker David Byrne und
dessen schwer verdauliche Solo-Soße. Aber: die Talking Heads
sind vorbei und nicht unberechtigt freut man sich so über eine
Best-of-Kompilation mit 18 hörenswerten Liedern. Die 17-jähige
Engländerin Joss Stone sorgte vor einem Jahr mit „The
Soul Sessions“ für Furore. Die begnadete Sängerin
mit der knödelnden, schwarzen Soul-Stimme verzauberte Millionen
– allerdings mit einem Cover-Album. Nun heißt es aber
das richtige Debüt der Engländerin zu verkünden.
„Mind, Body & Soul“ lässt sich leider nur als
Sensation bezeichnen und kopfschüttelnd die Frage stellen,
woher sie diese Emotion nimmt und welch göttliche, (zusammen
mit einem Songwriter-Team) geschriebene Soul-Nummern (mit leichtem
Rock) hier zu hören sind. Groß darf sich Nancy Sinatra
nennen. Ihr neues Album (es schrieben unter anderem Morrissey, Jarvis
Cocker, Pete Yorn, Bono) zeigt eine stilistische Breite der Nancy
Sinatra, die sich unter dem Begriff Pop sammelt. Folk, Americana,
mexikanische Trompeten, Blues, Rock ’n’ Roll zerfließen
bei ihr zu einer Glut, die in dieser Qualität unlöschbar
brennt. Ganz groß!
Unbefangen zeigen sich die Bananafishbones live aus dem Bad Tölzer
Kurhaus. Neues Material ergänzt sich mit den Allzeit-Favoriten
der Band, die witzig, charmant und mit unerwartet spritzigen Akustik-Ideen
ihre Platte „Live & Unplugged“ per Kurkonzert annonciert.
Ja, Bad Tölz kann bluesen. Tom Poisson nennt sich ein französischer
Liedermacher. Und er spielt bei seinem Debüt „Fait Des
Chansons“ selbige in unaufdringlicher Manier. Wolkig bedauert
er mit einer latenten Moll-Note den Lauf der Welt und gefällt
mit unausgelatschten Chanson-Pfaden. Der neue Wim Wenders-Film „Musica
Cubana“ (ab 23. September 2004) lässt sich mit der Filmmusik-CD
noch einmal zu Hause nacharbeiten. Diesmal sind es die jüngeren
Musiker, denen sich Wenders gewidmet hat. Das Pendant zum Erfolg
gekrönten „Buena Vista Social Club“. Macht Laune
diese Filmmusik zu hören.
Seit 30 Jahren existiert „The Irish Folk Festival“,
die Jubiläumstour 2004 steht vor der Tür und unter dem
Motto „Celtic Legends“. Vorab gibt es das Tour-Album
mit den Hauptakteuren der Tour (unter anderem Ian Smith & Stephen
Campbell) zu hören. Keltisch geprägt aber Insel-melancholisch
dargeboten. Wahre Helden eben. Eine Tragik der Popmusik bleibt der
Tod des 34-jährigen Songwriters Elliott Smith. Das Album „Songs
from a Basement on the Hill“ war fast fertig, als er starb,
sein Weggefährte Rob Schnapf vollendete nun die Arbeiten. Liebende
Indiemusik mit Folkmomenten sowie kaum greifbaren, weil schönen
Texten dürfte den Kreis für alle Smith-Bewunderer schließen.
Traurig und untröstlich. Jaques Loussier wird Ende Oktober
70 Jahre. Gefeiert wird mit „Impressions of Chopin’
Nocturnes“, das Loussier (ohne Trio, nur mit Piano) in spontanen,
aber altqualitativen Interpretationen der chopin’schen Werke
zeigt. Das Elektro-Pop-Frauenduo Client debütierte 2003 mit
„Client“. Der Nachfolger „City“ macht dort
weiter, wo man einst stoppte. Düster elektronisieren sie die
Achtziger-Beats der synthetischen Art, lassen ihre Gesangsphrasen
als Art Verkündung im Raum stehen und wissen so einen eigenen
Sound zu etablieren. Warum eigentlich nicht? Eine verrückte
Band sind Clann Zù aus Australien beziehungsweise Irland.
Ein Fass voll Musik zwischen keltischen Eingaben, elektronischen
Abgeriegeltheiten und wüstenarmem Folkrock vermengen sie zu
teils Pulsadern-schweren Fastbegräbnissen oder ausrastenden
Rockfragmenten. Bravouröse Gratwanderung. Der kubanische Pianist
Bebo Valdés und der spanische Flamenco-Star Diego el Cigala
ziehen ein Feuerwerk auf ihrem Album „Lágrimas Negras“
ab. Anrüchiger Flamenco, ungezügelter Jazz und rigorose
Latinmusik heben sie einem bisher kaum gehörten Charme unter.
Ein vielfach ausgezeichnetes Album, das dennoch unkommerzig bleibt.
Die kanadische Songwriterin k.d. lang verwirklicht sich einen Traum:
Ihr kanadisches Songbook ist mit „Hymns of the 49th Parallel“
vollendet. Sie zollt den einflussreichen Vorbildern ihrer Heimat
Tribut. Dabei unter anderem vielen fälschlicherweise für
Amerikaner gehaltenen Künstlern wie Neil Young, Ron Sexsmith,
Joni Mitchell oder Leonard Cohen. Emphatisch und mit profunder Traurigkeit.
Sven Ferchow
Diskografie
• R.E.M.: Around the Sun (4. Oktober 2004, Warner)
• Green Day: American Idiot (seit 27. September 2004, Warner)
• Talking Heads: The Best of (18. Oktober 2004, Sire Records)
• Joss Stone: Mind, Body & Soul (seit 27. September
2004, Virgin)
• Nancy Sinatra: Nancy Sinatra (4. Oktober 2004, Sanctuary
Records)
• Bananafishbones: Kurkonzert. Live & Unplugged (4.
Oktober 2004, Südpol records)
• Tom Poisson: Fait Des Chanson (seit 13. September 2004,
Axel Record)
• V.A.: The Irish Folk Festival (4. Oktober 2004, Magnetic
Music)
• Elliott Smith: Songs from a Basement on the Hill (18.
Oktober 2004,
Domino Records)
• Jaques Loussier: Impressions of Chopin’ Nocturnes
(25. Oktober 2004, Telarc)
• Client: City (seit 27. September 2004, Toast Hawaii/Mute)
• Clann Zú: Black Coats & Bandages (4. Oktober
2004, G7/MMS)
• Bebo & Cigala: Lágrimas Negras (seit 13. September
2004, BMG)
• k.d. lang: Hymns of the 49th Parallel (seit 27. September
2004, Warner)