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Ausgabe 2004/10
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nmz 2004/10 | Seite 33
53. Jahrgang | Oktober
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Fachgruppe Musik

Echt künstliche Farbstoffe

Sampling oder: Zurück im Time Tunnel, wo schon alles kommerzialisiert ist · Von Susann Witt-Stahl

Cocktails aus Melodie-Phrasen oder anderen eingängigen Ingredienzien alter Rock-, Pop- oder Soul-Evergreens, unterlegt mit synthetischen Beats gelten seit Jahren als Erfolgsgaranten auf dem Musikmarkt. So wird Elton Johns „Sorry Seems To Be The Hardest Word“ von der Boy-Group Blue gecovert, die zum stilisierten HipHop-Groove das übliche synchrone Hopsasa absolviert. Das Ganze wird dann noch angereichert mit ein paar geklauten Gesten von schwarzen Ghetto-Breakern – nur nicht so hart und so obszön. Und damit das Retro perfekt und die Stimmchen nicht gar so dünn rüberkommen, singt der Meister sogar noch ein paar Takte mit. Mitte der neunziger Jahre waren rund die Hälfte der Radio-Hits derart aufgemotzte Coverversionen.

D as Besondere an der neuen Rückwärtsgewandtheit der kulturindustriell gefertigten Hörkonserven – eine Retro-Welle gab es auch zwischen 1978 und 1985 – ist, dass sie meist an die Sample-Technik gekoppelt ist.

Mit Hilfe modernster Technik zurück reisen in eine Zeit, als in weiten Teilen der westlichen Hemisphäre noch bunte Pril-Blumen blühten – als wäre der „Time Tunnel“ aus der gleichnamigen US-amerikanischen Science-Fiction-Serie von 1966, schon längst Wirklichkeit geworden: Seit rund einem Jahrzehnt schlüpfen immer mehr Konsumenten durch das virtuelle Nadelöhr sinnlicher Erlebniswelten ins wundervolle Damals, als es KISS noch auf Vinyl, Langneses Dolomiti noch mit echten künstlichen Farbstoffen und es weder HIV noch Hartz IV gab.

Die kollektive Erinnerung der Menschen in den Industrienationen orientiert sich immer stärker an Artefakten der Alltagskultur und an mediatisierten Ereignissen. Der Literaturwissenschaftler George Steiner konstatierte bereits in den siebziger Jahren eine elektronische Verflüssigung der literarischen Materialität und eine Entleerung des kulturellen Gedächtnisses, das in der Sprache gespeichert ist, daher sprach er von einer „Post-Kultur“ – damit meinte Steiner eine Kultur, die kulturlos geworden ist.

So wird nicht nur die Warenwelt von Afri-Cola und Redlefsens „Würstchen mit dem Reißverschluss“ intensiver erinnert als die wahre Welt von Biafra und der zwei Millionen Toten von Vietnam. Sogar der „Seifenoper-Holocaust“ – wie die Autorin Sabina Lietzmann die Fernsehserie von 1978 nannte –, den die fiktive Familie Weiss durchleiden musste, erscheint vielen Menschen weitaus realer und monströser als die Shoah, die vor sechzig Jahren tief im Osten Europas stattgefunden hat und an Orten wie Yad Vashem oder dem Washingtoner United States Holocaust Memorial Museum dokumentiert wurde. Diese Wahrnehmung ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die kulturindustrielle Veralltäglichung und Banalisierung historischer Ereignisse längst eine zweite Wirklichkeit geschaffen haben.

Wenn heute von einer Retro-Kultur die Rede ist, dann geht es nicht um Geschichtsbewusstsein, um Erinnerung als rettenden und würdigenden Akt, sondern um eine effektive Zweitverwertung populärer Phänomene ohne unerwünschte Nebenwirkungen: Che Guevara ohne Revolution, Punk ohne Anarchie.

Tango für den Afterworkclub

So erlebt beispielsweise auch der Tango als zutiefst sinnlich-erotisches Erlebnis in den westlichen Metropolen eine Renaissance. Aber die unsagbar „traurigen Gedanken, die man tanzen kann“, bedürfen einer emotionalen Neutralisierung, um für die Singles im Afterworkclub konsumierbar zu werden. Die Lösung wird mit dem Mode-Begriff Fusion beschrieben und von dem franko-argentinischen „Gotan Projekt“ des Filmmusikkomponisten Philippe Cohen Solal geliefert: Eine Kreuzung aus originärem Tango Nuevo und sachlicher Elektronik. Zwar verschwindet die für die spaßgesellschaftlich konditionierte Hörerschaft wohl unerträgliche Traurigkeit und Morbidität des Tango hinter den hineingesampelten nüchternen Drum-Loops sowie hinter einer neonkalten Frauenstimme, und das Genre wird damit einer seiner primären Wesensmerkmale beraubt, aber Gotan Projekt zeigt eben auch, dass Sampling nicht automatisch Stillstand und Epigonentum bedeutet. Die Sampling-Artisten eignen sich zwar bereits vorhandenes Material an, aber recyceln und restaurieren es für die Weiterverarbeitung. Bevor eine Komposition durch Einsatz der DJ-Techniken Cutten, Pitchen, Loopen und Mixen handwerklich umgesetzt werden kann, muss der Komponist die reale Klangwelt filtern, fragmentieren, entsemantisieren, in der digitalen Sphäre neu kombinieren und in andere Kontexte überführen. Abgesehen davon, dass sich auch vor Entwicklung der Sampeltechnik, in den Zeiten, als noch die Fama von dem in ehrlicher Handarbeit gemachten Rock-Song ging, so manches vermeintliche Eigentum als „Diebstahl“ erwies – Procul Harums „A Whiter Schade of Pale“ als ein geniales Cover des zweiten Satzes „Air“ aus Bachs Orchester-Suite Nr. 3 –, zeugt die Vielseitigkeit und Komplexität der Materialbehandlung oftmals von Brüchen mit künstlerischen Konventionen und Erschütterung ästhetischer Normen. Sampling stellt nicht zuletzt auch eine Chance dar, Töne von der Diktatur der Instrumente und dem Fetisch der Virtuosität zu befreien.

Die Matrix der gestalterischen Prinzipien des Samplings bildet die Collage – mit ihrer Gebrochenheit vielleicht eine der letzten möglichen Kunstformen unserer Zeit. Als digitale Sound-Collage findet das Sampling vor allem über die HipHop-Kultur Verbreitung. Albino, einer der bekanntesten Polit-Rapper der Republik, verkörpert das Selbstverständnis des HipHop nicht nur als Kultur aus Musik und Poesie, sondern auch als eine kreative Plattform für soziale Kämpfe und Diskurse über Politik und Moral. Der 29-jährige Musiker lässt zwar für seine Kompositionen auch neue Sounds von seinem DJs synthetisieren, aber bevorzugt arbeitet er für seinen „Lyrischen Widerstand“, so der Titel seines ersten Albums von 1997, mit Zitat-Samplings aus dem Mainstream-Pop und Filmmusik, aus Radio-Werbung, Spielfilmen, aber auch historischen Reden – an Stelle von Vergessen und Auslöschen als treibende Kräfte künstlerischer Innovation setzt der HipHopper auf Erinnerung und Übersetzung. Um betroffenheitslyrische Entgleisungen zu vermeiden, kontrastiert er seine meist melancholisch-sentimentalen Klangteppiche, die aus Musikzitaten von barocker Kunstmusik bis zur irischen Ballade geknüpft sind, mit schnörkellosen, realistischen Polit-Texten. Mit Stücken wie „Aufbruch“, das mit einer Collage aus einer Dutschke-Rede („Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.“) und Thems „It’s All Over Now Baby Blue“ („Leave your stepping stones behind“) unterlegt ist, versucht Albino trotzig, den vorrevolutionären Optimismus der sechziger Jahre in unsere Zeit zu retten: Er lässt den Rhythm’n’Blues-Schmachter von 1966 mit einem vorwärtsstrebenden Drum-Beat verschmelzen und sich schließlich in einen harten Agit-Prop-Rap auflösen.

Auch wenn nicht erst seit „Ein bisschen Frieden“ Skepsis gegenüber „politisch engagierter Musik“ geboten ist und ein unverbrüchliches Festhalten am aufklärerisch-emazipatorischen Wertekanon aus der Perspektive postmodernistischer Kritik am historischen Fortschrittsbegriff obsolet erscheinen mögen: In einer Epoche, in der es dem Kapitalismus zusehends gelingt, die auf seine Abschaffung hinwirkenden Kräfte zu integrieren, bildet Albinos Aufruf zur Revolte gegen das Bestehende einen Befreiungsschlag gegen die virulente postmoderne Gleichgültigkeit.

Retro-Phänomen: Revolution

Das letzte Jahrzehnt war von einer Dialektik reaktionärer Retro-Phänome und soundtechnischer Revolution gekennzeichnet. Gelten die Fugees mit ihrem gesampelten Cover-Version von „Killing Me Softly“ paradigmatisch als These weltflüchtiger Nostalgie, dann bildet die Industrial-HipHop-Band Consolidated mit ihrer komplexen Klang- und Videoarchitektur die Antithese. Das 1989 in San Francisco gegründete Projekt arbeitet mit der großen Vielfalt von Samplingmaterial, das die gigantische Medienapparatur des fortgeschrittenen Kapitalismus zu bieten hat: Sprachsamples aus Nachrichten, Fernsehserien, politischen Kundgebungen, Jingles und Kompositionen aus den Geräuschen einer lärmenden Industriegesellschaft, die sich ständig am Rande eines ökologischen Super-Gaus bewegt. Dabei beziehen sich Consolidated mit ihrer beißenden Kritik an Amerika („Patriarchal Death-Machine“), seines stetig aggressiver werdenden kapitalistischen Systems („Friendly Fa$cism“) und an der Unterhaltungsindustrie als Vehikel des Massenbetrugs dezidiert auf Adornos Kulturindustriethese. Aber wie der bedeutendeste Vertreter der Kritischen Theorie diagnostizierte, ist in allen Kulturgütern und Technologien, die massenkompatibel sind und als Hoffnungsträger kultureller Demokratisierung rezipiert werden, bereits ihre Kommerzialisierung und Verdinglichung angelegt. So ist auch beim Sampling eine allgemein voranschreitende Standardisierung zu beklagen. Immer mehr Sampling-Artists geben sich mit den von der Musikindustrie vorproduzierten Sounds zufrieden. Sie schreiben immer seltener eigene Programme; die Lust am Tüfteln scheint mehr und mehr zu erlöschen. Und so verramscht ein Heer von Computermusikanten die schier grenzenlosen gestalterischen Möglichkeiten der digitalen Collage auf dem Markt der spätkapitalistischen Gesellschaft, die durch ein eindimensionales Bewusstsein charakterisiert ist – so sah es jedenfalls Herbert Marcuse –, das sich längst gegen die Möglichkeit der Selbstbefreiung des Individuums immunisiert hat.

Susann Witt-Stahl

 

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