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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 44-45
53. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Räume der Enge und Türen ins Weite
Ein Bericht von den Donaueschinger Musiktagen 2004 · Von
Reinhard Schulz
Auf dem Jahrmarkt mag es einem so ergehen. Man kauft 10 Lose,
weiß um eine Trefferquote von 30 Prozent, was einen auf etwa
drei Gewinne hoffen lässt. Und dann öffnet man die Lose
nacheinander. Nach sieben Nieten müssten also jetzt drei Treffer
kommen, redet man sich ein. Aber jeder mathematisch Grundgeschulte
weiß, dass die Gewinnchance nicht dadurch steigt, dass man
davor nichts gezogen hat (oder jedenfalls nur ganz unwesentlich,
weil ja die sieben entnommenen Nieten die Trefferquote in der Restmenge
der Lose etwas verändert). Ein wenig mag es dem Besucher der
diesjährigen Donaueschinger Musiktage so ergangen sein. In
den konventionellen Konzerten (Orchester- oder Kammermusik ohne
oder mit Elektronik), die ja immer noch unumstößlich
die Wirbelsäule des Festivals bilden, wuchs die Enttäuschung
fast von Stück zu Stück an.
Helmut Lachenmann hat einmal sinngemäß gesagt, dass
er für jedes neue Stück sein Instrumentarium neu erfinden
müsse. Das heißt Verantwortung, das heißt Ehrlichkeit
gegenüber den eigenen Ideen. Vielen Komponisten scheint das
aber immer noch nicht klar genug zu sein. Nicht selten hat man den
Eindruck, dass ein Orchester- oder Kammermusikstück (auch eine
Oper) nur darum geschrieben wurde, weil eben der Auftrag so lautete.
Das ist pragmatisch, aber es ist nicht schöpferisch.
Und es ist fatal, weil die Kommunikation zwischen Künstler
und Publikum nicht ernst genommen wird. Es ist doppelt fatal, weil
in diesen Tagen Rundfunkanstalten wieder ganz offensiv an diverse
Sparpläne denken, die besonders die Orchester und natürlich
den Dauerbrenner in dieser Hinsicht, die zeitgenössische Musik
betreffen. (Darf man nicht auch einmal etwas kreativeres Potenzial
bei den Rundfunkmachern der oberen Etagen erwarten, als nur den
verbissenen Blick auf Sparmöglichkeiten? Hin auf Öffnung,
Experiment, vielleicht auch Umgestaltung von Klangkörpern,
die doch den Körperkontakt der so verschlossenen öffentlichen
Anstalten zum Publikum herstellen! An solchen offensiven Lösungen
könnte die Szene der Neuen Musik durchaus ideenreich mitarbeiten.
Warum zum Beispiel gibt es noch kein spezielles Rundfunkensemble
für zeitgenössische Musik?) So gab es manch restlos Unbefriedigendes,
anderes, das nicht berührte, wieder anderes, das daneben wirkte.
Im Grunde ließen nur zwei Orchesterstücke aufhorchen:
das Stück „Lautung“ von Andreas Dohmen und das
Abschluss-Stück („das letzte Los“) „miniata“
von Rebecca Saunders. Wolfgang Suppans Stück „Phase“
muss hier Außen vor bleiben, da die Elektronik ihren Dienst
versagte.
Michel van der Aa ist sicher einer der gewichtigsten jungen holländischen
Komponisten. Seine Video-Oper, die vor kurzem durch Europa wanderte,
ist eine der markantesten neuen Arbeiten auf diesem Gebiet. Das
hier gelieferte Orchesterwerk „Second Self“ verfolgt
ähnliche Ideen (Durchdringung von real und virtuell), wirkte
aber nur wie ein Abklatsch, als ob alles sehr schnell zu Papier
gebracht werden musste. Die Klangkonturen wirkten schematisch, wie
mit großem Pinsel gemalt. Noch unverständlicher aber
war, was der Dresdner Komponist Jörg Herchet im dreiviertelstündigen
Großwerk „sich verräumlichend“ machte. Hier
wurde im Niveau fast alles unterschritten, was heutiges kompositorisches
Denken ausmacht. Gespielt wurde mit Raumklang und mit Zitatsprüngen,
die an das Zappen mit der Fernbedienung erinnerten. Nun, zum einen
ist dies nicht sonderlich originell, zum schwerer wiegenden anderen
aber hätte die Qualität der Zitate zumindest der Qualität
des Zitierten (vom E-Gitarren-Sound bis zu Latin Dance et cetera.)
standhalten sollen. Mag ja sein, dass Herchet die Trivialität
meinte, die Welt des Beliebigen aber lässt sich nicht dadurch
abbilden oder gar kritisch befragen, indem man beliebig komponiert.
Eine Arbeit dieser Art hat in Donaueschingen, man muss es so hart
sagen, nichts verloren. Denn hier sollten Standards gesetzt, nicht
aber verfehlt werden.
Ähnlich betrüblich wirkte leider auch das Konzert des
„ensemble recherche“ (eines sei gleich angemerkt: an
der Qualität des Spiels lag es nicht. Roland Kluttig leitete
das SWR-Orchester zu Beginn souverän, Hans Zender war feinhöriger
Dirigent des Abschlusskonzerts, ebenfalls das SWR-Orchester, und
auch das „ensemble recherche“ hielt sein gewohnt hohes
Niveau). Hier ließ am ehesten noch „Decoy“ der
jungen Schottin mit seinen ruhigen, durch Elektronik verlängerten
Klangbewegungen aufhorchen. Das groß angelegte Stück
„Terra Incognita“ von Gerhard E. Winkler – eine
„Konzert-Installation für Ensemble, Frauenstimme, Echtzeit-Partituren,
Computer, Videoprojektionen, interaktive Interfaces, Publikum, Räume
und live-elektronische Klangumformung“ – wirkte so angestrengt
wie die Aufzählung der beteiligten Medien. Das Publikum konnte
den Gang der Dinge beeinflussen, indem es Knöpfe („Trigger-Buttons“)
auf im Raum stehenden Säulen drückte; das hieß,
dass der Rechner irgendwann anderes Spielmaterial den vor Bildschirmen
sitzenden Musikern lieferte. Es war, hier scheint ein Irrtum Winklers
vorzuliegen, quantitativ Anderes, aber setzte keine anderen Qualitäten.
Eine Beobachtung: Nichts altert und verbraucht sich schneller als
neue Computerprogramme. Was freilich nicht heißt, dass tonal
grundierte Stücke, wie sie Paul Usher (sensibel gelauscht)
oder Daniel Smutny (filmmusikalisch direkt) im Schlusskonzert lieferten,
ein Ausweg sind.
Dann war da noch Karlheinz Stockhausen mit einer weiteren Szene
„Licht-Bilder“ aus dem ausufernden Sonntag (dreieinig
ist der Gottestag für drei Tage gedacht, das Stück ist
der Beginn des zweiten). Im Grunde ist es ein Preispsalm zweier,
ringmodulierter Doppelstimmen (wobei die Ringmodulation, also das
Addieren oder Subtrahieren zweier Frequenzen, ästhetisch schon
graue Haare bekommt). Der Text zählt alle Emanationen Gottes
vom Gestein bis zum Menschen (insbesondere die Heiligen) und zu
den Engeln auf. Naivität als Kalkül scheint dahinter zu
stehen. Die Grenze zum geschmacklich Unerträglichen ist nahe
und rückt auch nicht viel weiter weg, wenn man einige sinnlich
schöne harmonische Mischungen im gebetsartigen Fluss des Vortrags
vernimmt (hier wahrt Stockhausen immer eine ganz eigene Qualität;
sehr intensiv musizierten die vier Stimmen: Gesang, Trompete, Bassetthorn
und Flöte). Aber: Rechtfertigt das Resultat die immensen Kosten
dieses Projekts?
Ein Stück wie „Lautung“ von Andreas Dohmen (Jahrgang
1962) entschädigte für so manches. Es ging radikal um
musikalische Grundbegriffe: Geschwindigkeit und Lautstärke.
Wie Dohmen hier schnelle Passagen der Neuen Vocalsolisten Stuttgart,
die über Steuerhebel die individuelle Lautstärke blitzartig
anhoben (was zu einer Streuwirkung von plötzlichen Akzenten
führte), mit dem Orchestersatz verschränkte, wie er Geflüstertes
laut und Geschrieenes leise wirken lies, wie alles in einen packenden
Strudel aus Splittern und klirrenden Schärfen geriet, das war
faszinierend zu hören.
Und auch Rebecca Saunders’ Konzertstück für Akkordeon,
Klavier, Chor und Orchester „miniata“ wusste seinerseits
durch einen differenziert schwebenden Klang zu bestechen. Drei Sätze
markierten drei unterschiedliche Klangkonstellationen zwischen den
Solisten, dem Vokal- und dem Orchestersatz, wobei im ersten die
Solisten als Impulsgeber fungierten, im zweiten eine Art Mischklang
entstand und in dritten der Klang hauptsächlich aus Chorperspektive
gehört wurde. Ein irrisierendes Licht entstand. Angenehm fiel
auch noch ein Konzert mit drei sundanesischen Komponisten auf, das
von zwei Schlagwerkstücken von Salvatore Sciarrino und Pierluigi
Billone unterbrochen wurde: Bewegungen zur Avantgarde aus fremden
Regionen.
Klang-Raum-Vermessung: Benedict
Mason schickte fünfundvierzig Musiker und akustische
Wellen durch die Baar-Sporthalle. Alle Fotos: Charlotte
Oswald
Das war das insgesamt Dürftige, was die konventionellen Konzerte
boten. Aber am Rande tat sich viel, wobei man vielleicht die akustische
Raumbeschreibung mit dem kryptischen Titel „felt/ebb/thus/brink/here/array/telling“
des für seine unkonventionellen Ansätze bekannten britischen
Komponisten Benedict Mason nicht unbedingt dem Rande zuschreiben
möchte (es war eine Mischung aus Konzert und physikalischem
Experiment). Zur Debatte stand die Baar-Sporthalle und ihre räumlichen
wie akustischen Eigenschaften. Ein gleichsam denaturiertes Ensemble
Modern mit Mitwirkung der Jungen Deutschen Philharmonie (denaturiert,
weil die Musiker in der Regel mit anderen Instrumenten als ihren
eigenen zu tun hatten), betrieb die Raumvermessung. Man ließ
akustische Wellen durch den Raum kreisen und Akzentkaskaden schwirren,
man probte Nah- und Fern-, Innen- und Außenwirkungen. Das
war wissenschaftlich, aber so aufregend, wie man sich Wissenschaft
immer wünscht. Und Benedict Mason gelang es, den kruden Verfahren
immer auch Momente beglückender Poesie abzugewinnen.
Während der Haupt-Jazz-Abend mit Cecil Taylor (fast gleichaltrig
wie Stockhausen) erneut die Frage aufwarf, ob es solcher Darbietungen
im Festival bedürfe, erwies sich die Session nach einem Projekt
von Andrea Neumann und Christof Kurzmann „4rooms“ als
spannender Entwurf in die Zukunft. Vier Räume wurden bespielt,
im ersten erstellten der Schlagzeuger Tony Buck und Andrea Neumann
(Innenklavier) eine Real-Sound-Basis, die in drei weiteren Räumen
von Sabine Ercklentz, Christof Kurzmann und Ana Maria Rodriguez
im elektronischen Jetztzeitverfahren umgewandelt. Spannend der Vergleich
der Resultate, spannend aber auch das improvisierte Ausgangsmaterial.
Und noch mal Räume (selten wurde in Donaueschingen ein Begriff
so häufig aus verschiedenen Perspektiven angeschnitten, wie
diesmal der Raum), diesmal in den sogenannten Konzert-Installationen:
Wolfgang Mitterer füllte die Stadtkirche auratisch mit getragen
verwandelten Orgelklängen, noch intensiver aber wirkte das
Projekt von Manos Tsangaris mit dem Titel „Drei Räume
Theater Suite“.
Die normale Konzertsituation ist hier sowohl irritierend wie in
verschiedene Richtungen zum Denken anstoßend aufgebrochen.
Aber nicht nur das: Es machte auch einfach Spaß, den Raumanweisern
in einer kleinen Gruppe von ca. 15 Besuchern (mehr ging nicht in
den Mikro-Theater-Vorführungen) zu folgen und die nur wenige
Minuten aufleuchtenden Szenen zu erleben. Ein Mäzen räsoniert
über sein Verlangen nach dem extremsten Künstler, ein
wie auf psychiatrischer Liege ruhender Intendant klärt oder
besser verunklärt mit seiner Sekretärin die nächsten
Projekte. Die Besucher saßen in einem Raum, zum Nachbarzimmer
(in den dunklen Gewölben der ehemaligen F.F. Hofbibliothek)
war die Türe geöffnet und von dort drangen, verschnitten
in seltsamem Kontrapunkt, Klänge, die von der anschließenden
Aufführung stammten (und bei dieser Aufführung im nächsten
Raum hörte man wie eine Erinnerungsspur die vorangegangen Aktionen).
Das war locker, witzig, intelligent, aufregend und spielte virtuos
mit Begriffen wie Vernetzung, Differenz und Wiederholung, multimedial,
Installation, Konzept, interaktiv und vielen anderen, die sonst
so gewichtig vorgebracht werden, als würden sie allein schon
durch ihre Nennung den ästhetischen Wert des Stücks garantieren.
Als homöopathische Dosen hat Tsangaris diese köstliche
Form von musikalischer Präsentation bezeichnet. Es waren süße
und scharfe Tropfen ins Hirn, die vieles mit Witz und ästhetischem
Nachdruck in Frage stellten. Donaueschingen stellt viele solcher
Fragen.