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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 47
53. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Zukunft schöpft aus Vergangenheit
Die 28. Leipziger Jazztage beweisen einen kausalen Zusammenhang
Jedes Jahr ist es das gleiche: Es gibt eine Zeit vor den Leipziger
Jazztagen und eine danach. Vorher, beim Lesen des Programms, schaut
man etwas skeptisch auf viele Namen und freut sich auf einige bekannte
Größen des Jazz. Und danach weiß man, wie vielfältig,
spartenübergreifend und humoristisch zeitgenössischer
Jazz sein kann und wer/was sich hinter diesen Namen verbirgt. Die
Leipziger Jazztage bieten immer Überraschungen, im Jahr 2004
bereits zum 28. Mal. Zu verdanken ist diese Programmvielfalt dem
Jazzclub Leipzig und seinem künstlerischen Leiter Bert Noglik.
Erika Stucky: „Oh
ja. Das ist wie wenn man von Jimi Hendrix‘ Sommerparty
ins Heidiland übersiedelt… und das, mit allem
drum und dran: Bratwürste und Trachtenverein! Das ist
so was von bereichernd!“ Foto: Al Kreuzer
Hauptschauplatz des viertägigen Jazz-Marathons ist die Oper
Leipzig. Hier finden die abendlichen „Großevents“
statt. Auf den Nebenschauplätzen, Moritzbastei, Szeneclub naTo
und Reformierte Kirche, sind spezielle Konzerte angesiedelt, die
der Erwartungshaltung des Publikums eher entsprechen. In diesem
Jahr waren es afrikanische Klänge und Rhythmen in Jasper van’t
Hofs seit zwanzig Jahren bestehenden „Pili Pili“-Projekt;
Jazzrock, Ambient, Drum’n’Bass, Trip-Hop mit den Musikern
um Alex Gunia; frei improvisierte Klezmer-Klassiker der New Yorker
Band Rashanim; Live-Elektronik gepaart mit Posaune und Violine.
Einen besonderen Akzent setzen die Leipziger Jazztage jeweils in
der Reformierten Kirche. Der Samstagnachmittag kann als Ruhepunkt
gelten, an dem man nach aufregenden Abendkonzerten wieder zu sich
selbst finden kann. Zu dieser Selbstfindung verhalf in diesem Jahr
die norwegische Sängerin Sidsel Endresen. In ihrem erstmals
aufgeführten Soloprogramm stellte die Stimmakrobatin ihre Virtuosität
unter Beweis und ließ in keiner Minute eine Instrumentalbegleitung
vermissen.
Der Dreh- und Angelpunkt der Jazztage ist jedoch in der Leipziger
Oper zu finden. Hier trifft Weltklasse auf Newcomer und der erste
Opernabend war der beste Beweis dafür. Der Nachwuchssaxophonist
Markus Kesselbauer eröffnete den Abend und konnte als Begleiter
so erfahrene Musiker wie den Pianisten Walter Lang oder den Posaunisten
Johannes Herrlich gewinnen. Aus dessen Feder stammt der Titel „Hymn“,
eine Parodie auf die Hilflosigkeit von Sportlern während der
Eröffnungszeremonie sportlicher Großereignisse samt Hymne.
Das chaotisch zeitversetzte Zusammenspiel war signifikant dafür.
Seine Liebe zu Leipzig, wo Kesselbauer bei Konrad Körner und
Richie Beirach studierte, artikulierte er in „Final Inspiration“,
ein Stück zwischen Willkommen und Abschied. Im Herbst wird
Kesselbauer seine Studien in New York fortsetzen.
Mit Sicherheit wird er dort auch wieder auf seinen Kollegen James
Carter treffen. Wynton Marsalis und Lester Bowie sehen in ihm den
„Tenorsaxophonisten der Zukunft“ und sein kapriziöses
Auftreten zeigt, dass er sich dessen bewusst ist. Er und sein Orgel-Trio
mit Gerald Gibbs an der Hammond B3 und Leonard King am Schlagzeug
lieferten in Leipzig ein wahres Feuerwerk ab. Am Schluss des Konzertes
gab es auch noch eine Überraschung: Carter holte Kesselbauer
auf die Bühne und beide ließen eine auf großen
Festivals leider ausgestorbene Sessionatmosphäre aufkommen,
die das Publikum erstaunen ließ.
Dass Leipzig für den Jazz schon einmal bedeutende Impulse
geliefert hat, bewiesen die beiden Brüder und Altmeister des
Jazz, Rolf und Joachim Kühn. Beide zogen, jeder für sich,
aus Leipzig in die Welt und feierten jetzt gemeinsam die Rückkehr
in ihre Heimatstadt, und sei es auch nur für ein Konzert. Das
Duo Kühn/Kühn improvisierte in seinem Programm auf Jazzstandards,
verfremdete sie und ließ sie wiedererkennen.
Dass Jazz und Inspiration unmittelbar zusammen gehören, ist
bekannt. Alle Künstler des zweiten Abends haben sich von Giganten
der Jazz- und Rockgeschichte inspirieren lassen: Das Gianliugi Trovesi
Otetto schöpfte unkonventionell und mit italienischem Charme
aus der Renaissance-Musik oder schuf skurrile Synthesen aus populärer
und Kunstmusik.
Das Duo des Trompeters Thomas Heberer und des Kontrabassisten Dieter
Manderscheid zollten dem großen Louis Armstrong mit fast kammermusikalischen
Miniaturen Tribut.
Doch die eigentliche Überraschung des Abends und vielleicht
des gesamten Festivals war die Annäherung an Jimi Hendrix durch
Erika Stucky. Die beiden Schweizer Christie Doran (Gitarre) und
Fredy Studer (Schlagzeug) holten sich die amerikanisch-schweizerische
Performerin als Vokalistin in ihr seit zehn Jahren existierendes
Hendrix-Projekt. Jimi Hendrix machte Erika Stucky zum Publikumsliebling
der Leipziger Jazztage. Oder umgekehrt? Jedenfalls hatte man das
Gefühl, dass der alte Jimi das Diesseits verlassen musste,
um als Reinkarnation in Erika Stucky zurückzukehren. Und sie,
die Undankbare, hatte nichts Besseres zu tun, als respektlos über
ihn herzufallen. Doch, egal ob mit knallbuntem Kinderrecorder oder
Hexenbesen, nie arteten die eigentümlichen Cover-Versionen
in Klamauk aus, sie waren einfach nur gute Unterhaltung.
Das Finale der 28. Leipziger Jazztage bot der legendäre Pianist
McCoy Tyner. Einstmals veränderte er gemeinsam mit John Coltrane,
Jimmy Garrison und Elvin Jones den Kurs des Jazz im 20. Jahrhundert.
Zusammen mit Eric Harland am Schlagzeug und George Mraz am Kontrabass
ließ er die Zeit mit Coltrane wieder auferstehen. Ein Schritt
zurück, zwei Schritte vorwärts. Die Entwicklung wird weitergehen.