Wohl kaum eine Veranstaltung für zeitgenössische Musik
führt einen so starken kulturellen und persönlichen Dialog
mit der Region, in der sie verwurzelt ist, wie das alljährliche
Klangspuren-Festival der Tiroler Stadt Schwaz. Nicht nur die Busreisen
zu so freundlichen Konzertveranstaltungsorten der Umgebung wie der
Fleckviehversteigerungshalle in Rotholz, den Swarovski-Kristallwelten
in Wattens oder der Lagerhalle von Binder Holz in Jenbach schweißen
das Publikum in den zweieinhalb Septemberwochen zu einer Hörgemeinschaft
zusammen; es ist auch auffällig, dass viele der Besucher einheimisch
sind und das Festival als „ihres“ empfinden.
Peter Paul Kainrath, Marie-Luise Mayr und Reinhard Schulz, die
für das Programm verantwortlich zeichnen, nutzen die Besonderheit
dieses Festivals, in dem sie heuer zum ersten Mal ein umfangreiches
und originelles Backstage-Programm zusammengestellt haben, das auch
auf die Eigenheiten der Region eingeht. Geführte Generalprobenbesuche
gibt es inzwischen an jedem Opernhaus – aber eine Pilz- und
Kräuterwanderung, bei der nicht nur über John Cages Liebe
zu den „mushrooms“ räsoniert wird, sondern besagte
Objekte auch im herbstlichen Bergwald (unter der fachkundigen Anleitung
von Hansjörg Unterlechner) gesammelt, zubereitet und verspeist
werden, dürfte man schwerlich im Rahmenprogramm eines anderen
Festivals finden.
Einmalig sicher auch der Stadthörspaziergang mit Arno Ritter
(Leiter des Architekturforums Tirol) in Innsbruck, bei dem man sich
insgesamt nur vielleicht 300 Meter entlang des Gebäudes der
Sowi-Universität bewegte und im Nieselregen einem humorvollen
Vortrag über Bausünden und Bauchancen, Geruch und Farben
der Stadt lauschte – keine vom Fremdenverkehrsamt organisierte
Führung dürfte einem kulturinteressierten Touristen so
die Augen und Ohren für die Eigenheiten dieser Sport-Musik-Welt-Heimat-Traditions-Stadt
öffnen, wie der Blick hinter die Kulissen der Stadtplanung.
Dabei bekam der Begriff „Klangspuren“ ganz nebenbei
noch ein unerwartetes „Beigeräusch“, in dem die
Lärmspur tieffliegender Flugzeuge vom und zum zentrumsnahen
Flughafen alle fünf bis zehn Minuten den Vortrag akustisch
sehr eindrücklich überlagerten.
Mitternachtsjause mit dem Komponisten Vykintas Baltakas, Wolfsklammschlucht-Wanderung
mit Otto M. Zykan – wer die Backstage-Programme der Klangspuren
mitbucht, sollte viel Zeit mitbringen, aber es lohnt sich auch kulinarisch
in jedem Fall.
Und die Musik? Wieder sachkundig zusammengestellt; aus der Baltakas-Zykan-Furrer-Kurtág-Haas-Pirchner-Globokar-Eötvös
und andere Komponisten umfassenden Programmzusammenstellung einige
Highlights: Zum Beispiel das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck
in Bestform zusammen mit dem GAIDA-Ensemble unter der Leitung von
Olari Elts mit der Uraufführung von Zykans Violinkonzert „Da
drunten im Tale“, einem versponnenen Spiel mit Sprengseln
aus orchestraler Romantik und Jugendstil, diese mit feiner Orchestrierung
zu einem schillernden Mosaik verbunden.
Eher enttäuschend die Uraufführung von Baltakas ‚
„Poussla“ – einer Weiterentwicklung eines schon
bestehenden Werkes, das mit diffusen Klangfragmenten arbeitete und
eher so klang, als wäre der Komponist immer noch nicht ganz
fertig geworden mit der Ausformung des Materials. Entdeckungen auch
beim Konzert mit den Bläserensembles „Slowind“
und „the next step“: So zum Beispiel das Stück
„Play – Spiel in sechs Szenen für Bläserquintett
und Tonband“ des slowenischen Komponisten Bor Turel. Hier
lässt der Komponist Instrumente und aufgenommene musikalische
Bausteine im Dialog geradezu orchestral anmutende farbige Klangformationen
und -flächen entwickeln.
Der Abend mit dem Ensemble Modern, der ausschließlich Kompositionen
von Peter Eötvös gewidmet war, geriet zur eindrücklich-konzentrierten
Werkschau: Von den „Windsequenzen“ über „Two
Poems to Polly“, „Shadows“, „Snatches of
a Conversation“ bis hin zur „Chinese Opera“ konnte
man die Entwicklung des Komponisten in den vergangenen dreißig
Jahren verfolgen.
Unter der Leitung von Eötvös selbst gestaltete das Ensemble
die genauest ausgearbeiteten Strukturen zu wunderbaren poetischen
Klanglandschaften; selten wohl hat man die Stücke so intensiv
interpretiert hören können. Eine ganz andere Welt am nächsten
Morgen im Konzert mit dem Blasorchester Swarovski Musik Wattens
unter der Leitung von Felix Schieferer. Der im Jahr 2001 verstorbene
Komponist Werner Preisegott Pirchner zählte zweifelsohne zu
den originellsten Tiroler Kulturschaffenden und hat 1995 mit „Glück
& Glas“ ein witziges, hintergründig-humoristisches
Stück zum Jubiläum des Unternehmens Swarovski geschaffen,
das es nicht verdient hätte, einfach in der Versenkung zu verschwinden.
Fast Volksfeststimmung herrschte geradezu bei Vinko Globokars „En
rond et en large avec poteau indicateu“, bei dem neben dem
Blasorchester auch 130 Musikschüler im Saal verteilt spielten.
Es ächzte und stöhnte und jauchzte; die Klänge wogten
schiffsschaukelartig hin und her; bewunderswert die Leistung des
dirigierenden Komponisten in der Mitte, dem es gelang, die Klangwallungen
unter Kontrolle zu halten. Mit dem Schauspieler und Kabarettisten
Erwin Steinhauer hatte man im übrigen die Idealbesetzung für
die Lesung aus verschiedenen Schriften Werner Pirchners gefunden,
eingestreut zwischen die einzelnen Sätze von „Glück
& Glas“.
Steinhauer vermochte vor allem die verzweifelten Versuche des Komponisten,
sich mit entsprechenden Briefen gegen die Zwangsmitgliedschaft im
Tiroler Fremdenverkehrsverband zu wehren, als kaum glaubliche Realsatire
wiederzugeben: „Ich plattle nicht schuh, unterrichte nicht
ski und vermiete auch nicht meine Bettstatt… achtstöckige
Almhütten zeugen von einem witzigen Traditionsverständnis…“
Gerade der Tirol-Bezug ist es, der die Schwazer Klangspuren so
originell und liebenswert macht – und gleichzeitig vielleicht
auch ein wenig humorvoller und offener als so manch andere Veranstaltung.
Das Festival entwickelt sich langsam aber sicher zum Fest und gleichzeitig
zum Gesamtkunstwerk; man möchte den Veranstaltern nur sagen:
„Weiter so!“ und ihnen wünschen, dass sie auch
weiterhin von so treuen, offenen Sponsoren begleitet werden.
Heike Lies
Ergänzende Anmerkung
Während der Klangspuren Schwaz 2004 fand zum ersten Mal angebunden
an ein Musikfestival eine Internationale Ensemble Modern Akademie
statt. Erarbeitet wurden Kompositionen von György Kurtág,
John Cage und anderen. Kurtág war selbst anwesend und half
bei der Erarbeitung der Stücke. Das Projekt mit über
30 Teilnehmern war sehr erfolgreich. Man denkt an eine Fortsetzung
(siehe auch den Akademie-Schwerpunkt im Magazin,
im ersten Buch dieser Ausgabe.)