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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 46
53. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Weichenstellungen in die musikalische Zukunft
Der Warschauer Herbst bleibt ein Zentrum der musikalischen Auseinandersetzung
Geschichte hat merkwürdige Kontinuitäten. Ein Ort, der
einst tragende Funktion hatte, mag diese auch ahnen lassen, wenn
die Voraussetzungen sich gänzlich geändert haben. Und
Warschau war in Zeiten des Kalten Krieges so etwas wie eine kulturelle
Plattform, auf der, allen ideologischen Vorbehalten zum Trotz, Begegnung
möglich war. Ungeachtet aller gegenwärtigen Debatten um
Entschädigung und Reparation wächst heute das kulturelle
Engagement westlicher Staaten in Warschau. Deutschland, auf musikalischem
Sektor maßgeblich vertreten durch den wiedererstarkten Deutschen
Musikrat, nimmt hierbei eine markante Position ein. Aber auch die
anderen Länder des europäischen Festlandes zeigen sich
an Polen interessiert. In Warschau scheint so etwas wie ein kultureller
Stützpunkt der EU-Länder heranzuwachsen. Es ist wie bei
Vereinswahlen, wo sich mehrere pointierte Charaktere anbieten: Man
einigt sich auf einen Dritten, der auf der einen Seite stark genug
ist um zu repräsentieren, auf der anderen aber keinen Neid
aufkommen lässt. Und Warschau hat einiges zu bieten, schon
die sozialistische Vergangenheit bereitete dies vor.
Das Thürmchen Ensemble
während seines Auftritts in Warschau. Foto: DMR
Denn schon damals seit den 50er-Jahren gab es den Warschauer Herbst,
den ein polnisches Unabhängigkeitsbestreben, vielleicht im
Verbund mit nicht zum Schweigen zu bringenden Katholizismus, dem
System abtrotzte. Er war damals so etwas wie ein Rotlichtbereich
im musikalischen Grau des sozialistischen Realismus. Hier durfte
man, was andernorts unerwünscht war. Und man machte es mit
langem Atem. Freilich hatten sich schon damals westliche Staaten
und ihre Kulturinitiativen eingeklinkt und den Warschauer Herbst
zu Vorzugspreisen beliefert. Jetzt, wo es um Kulturfinanzen, die
ein rigider Kapitalismus mit Vorliebe zusammenstutzt, noch schlechter
in Polen bestellt ist, setzt sich das Prinzip fort. Der Warschauer
Herbst ist ein vehement von vorwiegend jungem Publikum angenommenes
Festival – und man sorgt national wie international dafür,
dass er nicht zum regionalen Event zurückgefahren wird. Schon
früher hatte man Zeichen gesetzt (es gab zum Beispiel am Tag
nach dem Konzert sogleich die Schallplatte davon!), und auch jetzt
tut man das modellhaft. Im Frühjahr gibt es seit zwei Jahren
ein weiteres Festival „Turning Sounds“ mit Musik einer
zweiten avancierten Szene: DJs, Electronic, Remixing. Wer Herbst
sagt, muss an das Frühjahr denken. Und dass sich im Umfeld
des Festivals deutsche Landesmusikräte mit polnischen Parallelorganisationen
trafen, um über die Ausweitung von Austausch zu sprechen, dass
sich die internationale Vereinigung der Musikinformationszentren
(IAMIC) unter dem Titel „Music in transition“ hier zusammenfand,
um über die Änderung der Musikszene oder auch über
Urheberrechte im digitalen Umfeld zu debattieren, all dies kündet
von der Vitalität des Ortes. Die Legende lebt.
Auf der IAMIC-Tagung stand vor allem der veränderte Begriff
von zeitgenössischer Musik im Zentrum. Zwischen Konzertsälen
und Clubs war ein Leitmotto, das die Umdenkprozesse zu umreißen
versuchte. Wirklich erleben wir derzeit einen drastischen Wandel
der Festival-Kultur, der Elfenbeinturm bricht auf, Neue Musik sucht
sich Spielorte außerhalb der tradierten, mehr oder weniger
repräsentativen Spielorte. Immer größere Teile der
jungen Generation, die musikalisch ernst genommen werden wollen,
weichen den Kultstätten der zeitgenössischen Musik aus,
es findet ein Prozess der Dezentralisation statt. Neue Techniken,
der Gebrauch neuer medialer Mittel werden immer wichtiger, das präsentierte
Großwerk (für das etwa ein Festival wie Donaueschingen
immer noch bürgt) steht unter solchen ästhetischen Vorgaben
eher am Rande. Der Werksbegriff selbst weicht sich auf. Ein Musiker,
der zum Beispiel eine große Zahl gesampelter Ausschnitte neu
und aufregend remixt, wird diese Tat kaum als Werk im klassischen
Sinne verstanden wissen. Und als Ort der Verbreitung mag unter Umständen
das Internet gewählt werden.
Und hier kommen auch neue Urheberschaftsbegriffe in den Blickpunkt.
Peter Rantasa vom österreichischen Musikinformationszentrum
stellte einen aus den USA stammenden neuen Rechtebegriff vor, wo
der Autor freiwillig auf gewisse Verwertungsrechte verzichtet, um
auf diesem Weg eine vielfältigere Nutzung seines Produkts zu
erzielen (das doppelte Copyright-C deutet dies an). Herwig Geyer
von der GEMA hingegen verwies auf das gut funktionierende Rückkoppelungssystem
von Rechtwahrnehmung und Unterstützung neuer kreativer Ansätze
in den europäischen Ländern. Hier zeigen sich ungeklärte
Fragen einer musikalischen Landschaft, die sich im Umbruch befindet.
Man wird unterschiedliche Lösungsmodelle erproben müssen,
die Künstler jedenfalls werden nicht warten, bis die Arten,
auf welche sie Kunst machen, rechtlich geregelt sind. Umso nötiger
ist es, die Situation des umfassenden Wandels zumindest zu begreifen,
also die gegenwärtige Position zu bestimmen. Und Wandel heißt
eben auch, Zügel eventuell lockerer zu lassen und Standpunkte
nicht als Gesetzesvorgaben zu verstehen. Er heißt, das Spiel
der Kräfte zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen,
die die Taten der Zukunft beeinflussen.
Warschauer Herbst, das ist ein Spagat der Orte: Das Lutoslawski-Konzertstudio,
vormals ein Zentrum des Warschauer Herbstes, wurde dieses Jahr verschmäht.
Man tauchte ab in Szene-Lokalitäten wie „Fabryka Trzciny
Arts Centre“, in den Ziegelbau der „Koneser Vodka Distillers“
oder ins „Olympic Centre“, ging auf der anderen Seite
in die Repräsentationslokalität der Nationalphilharmonie
oder in den spirituellen Raum der Saint Trinity Lutherkirche. Zeitgenössische
Musik, das versuchte der Leiter des Warschauer Herbstes Tadeusz
Wielecki zu vermitteln, sucht keine Enklaven, sondern taucht ins
Leben mit seinen die Gesellschaftsebenen spiegelnden Treffpunkten.
Sie erzwingt keinen eigenen Ort, sondern geht unters Volk. Luigi
Nonos Spätwerk „La lontananza nostalgia utopica futara“
fand in spiritistischer Darbietung der Violinistin Christine Michaela
Pryn in die Fabrik zurück, Jonathan Harveys (er bildete einen
Mittelpunkt des diesjährigen Herbstes) eindringlich direktes
elektronisches Glockengemälde „Mortuos Plango, Vivo Voco“
fühlte sich in der Kirche heimisch und die große Uraufführung
des gut 50-jährigen Breslauer Gorecki-Schülers Rafal Augustyn
„Symphonie der Hymnen“ mit 100 Minuten Dauer konnte
nur in der konservativen Umgebung der Philharmonie zu Hause sein.
Es war ein in zwanzig Jahren entstandenes Großwerk neoromantischer
Ausrichtung, das den Geist des polnischen Komponisten Szymanowski
heraufbeschwor und einst vielleicht mit der Erfolgsstory von Goreckis
„Sinfonie der Klagelieder“, die aus einem launigen Sidestep
der Geschichte in die Charts geriet, liebäugelte. Man zollte
Achtung und wunderte sich zugleich darüber, wie weit zeitgenössische
Lager heute auseinader liegen. Denn zum Konzert, das drei Stunden
davor experimentelle Ansätze jüngerer polnischer Komponisten
vorstellte (Magdalena Dlugosz mit einem Stück für Saxophon
und Elektronik und Wojciech Ziemowit Zych mit dem Ensemblestück
„Kaspar Hausers Freunde“ fielen in eigenwilliger Gestaltung
besonders auf), gab es keine Brücke.
Vielleicht vermittelte der Warschauer Herbst das auf besondere
Weise: Zeitgenössische Musik heute ist auf keinen noch so weiten
gemeinsamen Nenner zu bringen. Wir beobachten Vielfalt, die in der
Orientierung immer schwerer wird. Wir begegnen unterschiedlichen
Publikumsschichten, die miteinander wenig zu tun haben. Und hier
wird ein weiteres Modell vorgelebt: Demokratie. Der Warschauer Herbst
schlug große ästhetische Bögen: von der multimedialen,
zwischen des Stilen suggestiv springenden Computer-Oper „Europe“
nach Worten von William Blake von Stanislaw Krupowicz, die eine
mystische Operntrilogie „The Land of Ulro“ nun, nach
zwei Vorläufern aus Holland und Litauen mit einem polnischen
Projekt abschloss, zum großen Finalkonzert mit den vier Lutoslawski-Sinfonien
(zehnter Todestag des Komponisten!). Vom höchst gelungenen
Auftritt des deutschen Türmchen-Ensembles bis zu einem wohl
eher (ästhetisch wie interpretatorisch) enttäuschenden
Konzert des Moskauer Studios für Neue Musik, von der grandiosen
Video-Oper „One“ des Holländers Michel van der
Aa bis zu musikalischen Repetitiv-Strukturen des Österreichers
Bernhard Lang. Landschaften entstehen. Warschau ist, heute wie früher,
Vermittlungsort. Dass der Deutsche Musikrat diesem Ort seit vier
Jahren eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, beginnt sich als kluge
Weichenstellung zu erweisen.