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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 16
53. Jahrgang | November
Forum Musikpädagogik
Jeder hat das Recht auf die eigene Musikalität
Improvisation in der Hochschulausbildung: Kreativitätsförderung
mit Methode? · Von Matthias Schwabe
Moritz wäre für viele Instrumentallehrer ein Graus gewesen.
Für einfache einstimmige Kinderlieder, die andere in kürzester
Zeit auswendig spielen, brauchte er mehrere Wochen. Und auch nach
vielen Jahren Klavierunterricht stolperte er immer noch mühsam
von Note zu Note. Eigentlich ein typischer Abbrecher. Wäre
da nicht das Improvisieren gewesen. Dabei stellte er sich nämlich
sehr geschickt an, wurde rhythmisch immer souveräner, entwickelte
geradezu virtuose Fähigkeiten und einen ganz eigenen Stil.
Einer seiner Lieblingskomponisten ist Gershwin. Aus zwei Seiten
Noten macht er ein sehr überzeugendes zehnminütiges Musikstück,
in dem er die Themen und die typischen Harmoniefolgen nach eigenem
Gusto verarbeitet, am einen Tag so, am nächsten ganz anders.
Er ist ein wirklich musikalischer Mensch – wenn er nicht nach
Noten spielen muss!
Bei Michael verhielt es sich ein wenig anders. Er hatte es leichter
mit vorgegebener und notierter Musik. Trotzdem: wenn er improvisierte,
glaubte man einen Schüler vor sich zu haben, der mehrere Jahre
weiter war als der Michael, der nach Noten spielte. Als ich wegzog,
wechselte er zu einer Lehrerin, die nur das Spielen nach Noten akzeptierte.
Nach kurzer Zeit brach er den Unterricht ab.
Improvisieren ist für viele Menschen der entscheidende, für
manche sogar der einzig mögliche Zugang zur Musik. Sie spüren
ihre Musikalität nur in der Situation des Musizierens. Ein
Notentext, der erst decodiert und dann „richtig“ auf
das Instrument übersetzt werden muss, spricht Seiten in ihnen
an, die mit Musik nichts zu tun haben, lenkt sie von der Musik ab
und lässt das Gefühl in ihnen entstehen, „unmusikalisch“
zu sein. In Wirklichkeit hat aber lediglich der Zugang über
die Noten ihnen den für sie falschen Weg gewiesen, sie nicht
zu ihrer eigenen Musikalität geführt. Ähnliches ist
übrigens auch in der improvisatorischen Arbeit mit Gruppen
musikalischer Laien zu beobachten. Viele, die sich bisher für
unmusikalisch hielten, entdecken hier ungeahnte Fähigkeiten.
Voraussetzung ist aber, dass ich als Lehrer keine Barrieren technischer
Art aufbaue – Skalen, Harmonieschemata, Musiktheorie –,
die nur ihre kognitiven Fähigkeiten (oder Unfähigkeiten)
ansprechen, nicht aber ihr Hören und ihren unmittelbaren Klangsinn.
Was ist aus dem bisher Gesagten zu schlussfolgern? Zwei Feststellungen
sind mir besonders wichtig:
Jeder Schüler, jede Schülerin (instrumental, in einem
Ensemble oder in der allgemeinbildenden Schule) hat das Recht,
auf eine ihm oder ihr angemessene Weise an die eigene Musikalität
herangeführt zu werden.
Als Lehrer brauche ich sowohl die Fach- als auch die Methodenkompetenz,
um dies in entsprechender Weise zu tun.
Fach- und Methodenkompetenz beschränken sich bei den meisten
Lehrern auf den Umgang mit notierter Musik. So wichtig diese Fähigkeit
zweifelsohne ist – sie genügt nicht! Lehrer müssen
in der Lage sein, zu erkennen, ob ihre Schüler eher über
den Weg der vorgegebenen oder der selbst entwickelten Musik, mehr
über das Auge oder mehr über das Ohr, zu ihrer ihnen eigenen
Musikalität finden. Und sie müssen in der Lage sein, auf
dem als geeignet erkannten Weg kompetente Begleiter und Förderer
zu sein.
Was heißt das für die Hochschulausbildung? Studentinnen
und Studenten, der Instrumentalpädagogik ebenso wie der Schulmusik,
müssen während ihres Studiums
a) so viel eigene Erfahrungen mit Improvisation sammeln,
dass sie ihren Schülern selbst Vorbild sein und sie kompetent
beraten können. b) sich mit Methodik und Didaktik musikalischer (Einzel-
und Gruppen-) Improvisation auseinandersetzen und lernen, wie unterschiedliche
methodische Ansätze für unterschiedliche Schüler
einzusetzen sind. Welcher Schüler benötigt einen spielerischen
und angstfreien Einstieg, um sich beim Musizieren frei zu fühlen,
wer braucht eher eine anspruchsvolle Aufgabe als Herausforderung?
So lobenswert es ist, dass derzeit immer mehr Hochschulen das
Fach Improvisation in ihr Unterrichtsangebot aufnehmen, so notwendig
ist es doch, darauf hinzuweisen, dass dies vorerst nur ein Tropfen
auf den heißen Stein ist. Im schlimmsten Fall kann sich eine
zu oberflächliche Beschäftigung zu einem echten Eigentor
entwickeln, wenn geschieht, was Richard Jakoby einst in einem beißenden
Artikel der „Improvisationsflut“ der siebziger Jahre
vorwarf, „die die Grenze zum Unseriösen, zum Kindischen,
zur Scharlatanerie häufig überschritt und oft weder dem
zu bildenden Schüler, noch der Sache Neue Musik gedient hat“1.
Ein individuelles Herumprobieren mit Improvisation, ohne die Basis
fundierter künstlerischer Erfahrungen und methodisch-didaktischen
Wissens kann genau dort enden. In den siebziger Jahren war Improvisation
eine Modeerscheinung, die vermutlich an ihrer eigenen mangelnden
Substanz zugrunde ging (womit die Verdienste Einzelner keinesfalls
geschmälert werden sollen). Ein solcher Fehler darf sich eigentlich
nicht wiederholen, schon gar nicht innerhalb solch kurzer Zeit!
Eine Musizierform, die Jahrhunderte lang eine Selbstverständlichkeit
für jeden Musiker war, muss ein angemessenes Gewicht in der
musikalischen und musikpädagogischen Landschaft haben und in
Ernst zu nehmender Weise mindestens in die musikpädagogischen
– besser auch in die künstlerischen – Studiengänge
aufgenommen werden. Bis die Hochschulen sich hoffentlich eines schönen
Tages dieser Aufgabe in vollem Umfang annehmen (was bei der derzeitigen
Haushaltslage noch lange dauern kann), sei einstweilen auf die zur
Zeit noch wenigen Möglichkeiten hingewiesen, sich improvisatorisch
intensiver fortzubilden.
Nach meiner Kenntnis bestehen derzeit folgende Aus-, Fortbildungs-
und Informationsmöglichkeiten:
Musikhochschule Leipzig
Improvisation ist möglich als Zusatzstudium (Gruppen- und
Einzelunterricht, Methodik, Lehrpraxis) oder im Rahmen des Aufbaustudiums
Zeitgenössische Musik. Für alle DMP-Studierende ist es
vier Semester lang Pflichtfach. Leitung: Tilo Augsten.
Kontakt: Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn
Bartholdy“, Grassistr. 8, 04107 Leipzig, Tel. 0341/21 44-55,
Fax: -503, E-Mail an Tilo Augsten: augton@web.de
Musikhochschule Dresden
Improvisation ist möglich als Wahlfach für Pianisten
oder Zweitfach für DME-Studierende, außerdem ist es dreijähriges
Pflichtfach für alle Klavierstudenten. Leitung: Prof. Ute Pruggmayer-Philipp.
Kontakt: Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“,
Wettiner Platz 13, 01067 Dresden, Tel. 0351/49 23-634, Fax -657
Universität Siegen
Musikalisch-therapeutische Zusatzausbildung für Angehörige
helfender Berufe (ein eher sozialpädagogisch ausgerichteter
Studiengang, in dem musikalische Improvisation als Schlüsselkompetenz
gelehrt wird). Leitung: Prof. Harmut Kapteina und andere.
Kontakt: Prof. Hartmut Kapteina, Universität Siegen, Hölderlinstr.
3, 57061 Siegen, Fax 0271/740 28 29, E-Mail: kapteina@musik.uni-siegen.de
Hochschule für Musik Basel
Nachdiplomkurs „Improvisierte Kammermusik/Freie Improvisation“.
Leitung: Walter Fähndrich, Peter K. Frey, Christoph Baumann.
Musik – Tanz – Theorie, zweijährige Ausbildung
zur pädagogischen und künstlerischen Arbeit auf dem Gebiet
der Improvisation (für Absolventen künstlerischer, pädagogischer
oder therapeutischer Studiengänge). Leitung: Prof. Dr. Peter
Jarchow und andere.
Internationale Tagung für Improvisation Luzern (alle drei
Jahre, zuletzt 2002)
Sechstägige internationale Tagung mit Vorträgen, Workshops,
Seminaren und Konzerten von international renommierten Musikern
und Referenten. Leitung: Walter Fähndrich, Peter K. Frey, Christoph
Baumann.
Kontakt: Peter K. Frey, Im Heugarten 45, CH-8617 Mönchaltorf,
Tel./Fax +41-(0)1/948 06 44, E-Mail: info@ improvisation-luzern.ch
Ring für Gruppenimprovisation
Tagungen mit renommierten Dozenten
Herausgabe des „Ringgesprächs über Gruppenimprovisation“
der einzigen deutschsprachigen Zeitung über Theorie und Praxis
musikalischer Improvisation
Herausgabe des Kurskalenders Musikalische Improvisation mit
jährlich mehr als 100 Kurs- und Fortbildungsangeboten für
musikalische Improvisation; auch unter www.impro-ring.de
Website mit Probeartikeln der Zeitung und kommentierter Literaturliste.
Kontakt: Ring für Gruppenimprovisation, c/o Matthias Schwabe,
Wilskistr. 56, 14163 Berlin, Tel. 030/84 72 10 50, Fax 030/814
15 03, E-Mail: im pro-ring@impro-ring.de, www.impro-ring.de
Zuletzt möchte ich auf das in diesem Frühjahr von mir
gegründete „exploratorium berlin“ hinweisen, ein
Veranstaltungs- und Fortbildungszentrum, das sich ausdrücklich
der improvisierten Musik widmet und zum Ziel hat, all das Potential
zu aktivieren, das Improvisation als Musizierform zu bieten hat:
Kurse für musikalische Laien – auch ohne jegliche
Vorkenntnisse –, für Kinder und für Menschen mit
Behinderung, die eine Möglichkeit zum gemeinsamen Musizieren
suchen
Fortbildungsangebote für Musikpädagogen/-therapeuten,
Sozialpädagogen und andere, die für ihre berufliche
Tätigkeit mit verschiedenen Zielgruppen künstlerische
Erfahrung und methodisch-didaktisches Know-how über improvisierte
Musik suchen
Kurse für lebendiges Musiklernen durch Improvisation,
zum Beispiel im Bereich Musiktheorie
sogenannte „Offene Bühnen“: Treffpunkte für
geübte improvisierende Musiker/-innen, die in verschiedenen
Ad-hoc-Besetzungen miteinander improvisieren möchten
Auftrittsmöglichkeiten für unbekannte Improvisations-Ensembles
Konzerte mit arrivierten Ensembles, insbesondere solche, die
selten zu hören sind. Ein erstes „Highlight“
war am 30. September Sofia Gubaidulinas Improvisationsensemble
ASTRAEA.
interdisziplinäre Zusammenarbeit mit improvisierenden
Tänzerinnen, Bildenden Künstlern, Schauspielern
Ausbildung, insbesondere für musikpädagogisch Tätige,
ist in Planung.
Kontakt: exploratorium berlin, Mehringdamm 55, 10961 Berlin, Tel.
030/84 72 10 52, Fax 030/814 15 03, E-Mail: info@exploratorium-berlin.de
1 Richard Jakoby: Neue Musik und Musikerziehung,
in: Musik und Bildung, 1991/4, S. 5-9