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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 14
53. Jahrgang | November
Gegengift
Derridada, Jelinek
Dass „das“ deutsche Stadttheater, gewissermaßen
als das in viele rhizomatische Ecken und Enden zerfallende Wurzelwerk
im Humus der deutschen Kulturnation, zum Opernhaus des Jahres gekürt
wurde, hat viel Zustimmung erfahren und noch mehr (oft maskierten)
Hohn und Spott. Lässt man das weg, was eher auf die Cocktail-Couch
gehört und vor allem der Selbstbeweihräucherung dient,
letztlich also sogar die Frage nach Qualität und Innovation
et cetera, geht es hier vor allem um eine Grundfrage aller Zivilisation:
Was und wie wird „tradiert“, auf welche Weise kommt,
im Lauf der Zeit und durch alle Interpretationen hindurch, ein mehr
oder minder heiliger „Text“ zu uns. Ein Text, der unser
„Grund“ und unser „Herz“ ist, der uns zu
dem macht, was wir sind. Es geht also, selbst wenn Stadttheater
zu Opernhäusern des Jahres werden, letztlich um die leidige
Frage nach der Identität.
Dass diese Frage politisch und gefährlich ist, dass sie zu
dem führt, was man den Extremismus der Mitte nennen könnte,
hat vielleicht nicht als erster, aber nachdrücklicher als andere
der kürzlich verstorbene Philosoph Jacques Derrida thematisiert.
Natürlich ist er, wie fast jeder Denker des 20. Jahrhunderts
von Belang, zunächst Nietzscheaner, das heißt er kennt
dessen philologische, ja ärztliche Grundforderung an den kulturellen
Diskurs, Text und Interpretation konsequent zu unterscheiden. Aber
er geht weiter als der Anti-Ideologe Nietzsche; er ist zugleich
bescheidener und radikaler. Derrida weiß, dass jeder Text
notwendig „transzendent“ ist, dass niemand einfach so
behaupten kann, über ihn zu verfügen. Sinn entzieht sich
– und er wird zusätzlich verstellt von denen, die ihn
sozusagen routinemäßig in ihrem Repertoire haben. Wer
längere Zeit Gulda gehört hat und jetzt meint, das sei
Beethoven und deshalb eine Deutung beispielsweise von Pogorelich
absurd findet, der fetischisiert eine bestimmte Interpretation,
verwechselt sie mit dem „Text“ und will, im Namen des
Textes, alle anderen Annäherungen ausschließen, vernichten
und verbieten. Auch über das Regietheater kann nur schimpfen,
wer seine Wahrnehmung des Textes für den Text selbst hält.
Derrida hat gezeigt, dass alle, die vorschnell über den Sinn
verfügen, zu Dummheit und Gewalt beziehungsweise, was der gemeinsame
Nenner ist, zu Einschluss und Ausschluss neigen. Weil er den Sinn-Aufschub
propagierte, wurde er gern „Derridada“ genannt, in Anspielung
auf die Dadaisten, die mitten im Wahn-Sinn des Ersten Weltkriegs,
Sinnverweigerung und Sinnverschiebung für die letzte mögliche
Strategie der Vernunft hielten. „Derridada“ war als
Beschimpfung gemeint, erweist sich aber für jeden, der noch
zu einem Rest an Nachdenklichkeit bereit ist, rasch als das ultimate
Lob.
Eine solche Ambivalenz der Etikettierungen ist auch bei den Nobelpreis-Laudationes
für Elfriede Jelinek am Werk: Alle, die begeistert über
die überraschende Entscheidung der Stockholmer Akademie sind,
denunzieren sie, weil sie die uneinnehmbare, eher noch hysterische
als verlässliche Elfriede Jelinek zur Parteigängerin machen.
Und die, die sie zu beschimpfen meinen, indem sie behaupten, ihre
Texte seien noch nicht Theater, sondern würden erst von fantasievollen
Regisseuren zu Theater gemacht, würdigen sie in Wahrheit und
wissen, wenn auch in verkehrter Form, was Kulturarbeit bedeutet.