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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 14
53. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Ort für Visionen und Kommunikation
Tagung des Deutschen Kulturrates in der Berliner Archenhold-Sternwarte
Er hatte Visionen und einen langen Atem, jener Friedrich Simon
Archenhold, der 1893 das weltweit größte Fernrohr plante.
Mit Hilfe von Sponsoren konnte er diesen Traum auf der Berliner
Gewerbeausstellung 1896 realisieren. Unter Archenholds Leitung entstand
rund um das 21 Meter lange Riesenfernrohr, verbunden mit einer Ausstellung
und hochrangigen wissenschaftlichen Vorträgen, die bis heute
größte Volkssternwarte Deutschlands. Die schon von Alexander
von Humboldt verfochtene Idee einer „Astronomie für Jedermann“
wurde so Wirklichkeit.
Auch der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände,
braucht Visionen. Er verlegte deshalb seine Tagung „Kulturelle
Bildung in der Bildungsreformdiskussion – Konzeption Kulturelle
Bildung“ in eben jene Berliner Archenhold-Sternwarte. In dem
Saal, in dem Albert Einstein seine Relativitätstheorie 1915
zum ersten Mal öffentlich in Berlin vorgestellt hatte, warnte
Edelgard Bulmahn, die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
vor einer Zweiklassengesellschaft in Bezug auf kulturelle Bildung.
Als Mittel gegen jene zweite Klasse der Hauptschul-Absolventen,
die kulturelle Angebote kaum nutzen, seien nach außen geöffnete
Ganztagesschulen nötig, die auch interkulturelle Bildung ermöglichten.
Doris Ahnen, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, knüpfte
daran an, wenn sie kulturelle und interkulturelle Kompetenz gleichsetzte.
Immerhin sei erwiesen, dass das Ästhetische den Erwerb von
Schlüsselfähigkeiten erleichtere. Ihre Bemerkung, die
Schüler sollten gefördert und herausgefordert werden,
führte in der Diskussion zu der Frage, welche Kultur denn vermittelt
werden solle: die der Erwachsenen oder die der Jugendlichen? Der
Deutsche Kulturrat geht, wie Dieter Wunder zustimmend feststellte,
von einem eher engen Kulturbegriff aus und widersetze sich damit
den Auflösungstendenzen der Unterhaltungsindustrie. Wunder
warnte allerdings vor zu großen Hoffnungen auf den Staat.
Kulturelle Bildung müsse vielmehr in der Zivilgesellschaft
verankert sein, in Basis-Initiativen der Städte und Gemeinden.
Kulturelle Bildung geht nach der Schulzeit weiter, etwa in den Institutionen
der Erwachsenenbildung, über die Richard Stang referierte.
Die Erwachsenenbildung begegnet zahlreichen Herausforderungen, dem
demographischen Wandel und den kulturellen Veränderungen durch
Migration. Neue Bedingungen ergäben sich auch durch die Globalisierung
der Wirtschaft und durch Veränderungen von Erwerbsbiographien.
Insgesamt drohe eine feindliche Übernahme der Erwachsenenbildung
durch die Ökonomie, womit Bildung dann zum Luxusartikel wird.
Max Fuchs, der Vorsitzende des Deutschen Kulturrates, hatte einleitend
drei Ziele für die Schulreform genannt. Die Schule solle nicht
nur die Fähigkeiten entwickeln, die die alarmierende PISA-Studie
in den Vordergrund gestellt hatte, sondern im Sinne des zu wenig
beachteten Berichts des „Forum Bildung“ zu fachlicher
Qualifikation, politischer Partizipation und zu Persönlichkeitsentwicklung
hinführen. Am ersten Tag wurden diese einleuchtenden Forderungen
kaum aufgegriffen und gab es mehr Fragen als Antworten, zumal ein
verbindlicher Kulturbegriff und eine verlässliche Theorie der
ästhetischen Bildung zu fehlen scheinen. Umstritten war das
Verhältnis von Zwang und Freiwilligkeit: Wie können Schüler
motiviert und zur Eigeninitiative angeregt werden? Lösungen
deuteten sich bei den projektorientierten Formen des Lernens und
Lehrens an, die von der außerschulischen Bildung in die Schule
übertragen werden sollten. Die Schule der Zukunft muss sich
mit anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen vor Ort vernetzen.
Bei einer von Theo Geißler geleiteten Diskussion bekannten
sich der bayerische Staatsminister Thomas Goppel, Bundestagsvizepräsident
Norbert Lammert und Kulturratsgeschäftsführer Olaf Zimmermann
zum Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Förderung
der kulturellen Bildung. Obwohl zum Tagungsende resümiert wurde,
selbstbewusst kulturelle Bildung zu vertreten und einzufordern,
fehlten die großen Visionen, wie sie dem genius loci entsprochen
hätten. Nur Dieter Herrmann, der Direktor der Archenhold-Sternwarte,
hatte auf Alexander von Humboldt und Albert Einstein hingewiesen,
deren Kulturbegriff gleichermaßen Geistes- und Naturwissenschaften
umfasste, weil die Suche nach Wahrheit beide verbindet. Vielleicht
sollte sich der Kulturrat auch an diesen Geistesgrößen
orientieren, ähnlich wie Hans Magnus Enzensberger in seinem
Humboldt-Projekt, um aus dem Blick in die Vergangenheit Maßstäbe
für die Zukunft zu gewinnen.