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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 6
53. Jahrgang | November
Portrait
Lordsiegelbewahrer der Qualität
Der Musikschriftsteller Ulrich Dibelius
Noch keine hundert Jahre jung und schon zweihundert Mal gehäutet,
versucht das Radio ewig jung zu bleiben. Wobei jung kein Qualitätskriterium
an sich repräsentiert. Der Schritt fort vom Etablierten markiert
das zunächst Junge, das Neue, (das Bessere zuweilen) als Fortschritt.
Solch wechselnde Wellenbewegungen ist ein sensibles Medium wie das
Radio ebenso wie der einzelne Mensch ständig ausgesetzt. Die
klingenden Sendungen, Produkte, Ergebnisse von Denken und Handeln
reflektieren dies unüberhörbar. Menschen machen Radio.
Sie machen aus der Idee drahtloser Übertragung Unterhaltungsradio.
Oder Info-Wellen. Oder Volksdümmliches. Oder Berieselungskanäle.
Oder sie füttern die (extra-)terrestrischen Abstrahlpositionen
auf hohen Bergen und an geostrategisch günstigen Positionen
im All mit Nahrung für die Sinne, für Sinn und Sinnlichkeit.
Das geht realistischerweise nur so tief, wie das, was hineingesteckt
wird, aus der Tiefe des Geistes heraus entwickelt werden kann. Wo
nichts ist, kann auch nichts sein. Oder was einer nicht hat, „kann
einem nicht gegeben werden“, wie es sinnvoll einer der großen
Utopisten des zwanzigsten Jahrhunderts paraphrasiert, der Philosoph
Ernst Bloch.
Foto: Martin Hufner
Wie immer und wie überall an den Schaltstellen gesellschaftlicher
Beschleunigungen oder struktureller Entschleunigungen sind es einzelne
Persönlichkeiten – und nicht die Institutionen –,
die bewirken, was wirksam wird. Eine wahrhaft zünde(l)nde Persönlichkeit
für die Entwicklung von Radio im Westen Deutschlands nach 1945
ist Ulrich Dibelius. „Von Hause aus“ Cellist, suchte
er bald das Betätigungsfeld Journalist im Printbereich diverser
Feuilletons. Ab Mitte der fünfziger Jahre war er Teil des intellektuellen
Gewissens im Radio des hohen Nordens, von der Küste bis weit
südlich der Lüneburger Heide. Nicht erst ein Jahrzehnt
später wurde es der wilde Süden einer jungen Republik,
der von linken und aufklärerischen Gedanken einer aufgeklärten
Schar ungestümer Denker aufgemischt wurde.
Ein liberales und zugleich wertkonservatives Führungspersonal
sowie entsprechende Strukturen im Bayerischen Rundfunk garantierten
Denk- und Gedankenfreiheit in einem sonst eher engstirnigen Umfeld.
Dergestalt hallten schier unerhörte Gedanken, widergespiegelt
vom Alpenhauptkamm, weit über das Sendegebiet hinaus und kündeten
von einer durchaus konkret lebbaren bayerischen Liberalität
– die freilich so weit gereicht hatte, dass sie gar als Steigbügelhalter
für die Etablierung brauner Ideologie und deren Verantwortlichkeit
für das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte missbraucht
werden konnte (sich willig hatte missbrauchen lassen). Hier ein
neues Bewusstsein zu entwickeln, eine neue Klarheit des Analysierens
und Denkens zu wecken für das, „was das andere bayern“,
ein anderes Deutschland ausmacht, war inhaltliche und treibende
Kraft für Radio-Konzepte und Hörfunk-Realitäten.
Als ein Bannerträger immer vorne weg.
Der Heidelberger Ulrich Dibelius, Jahrgang 1924. Seine real praktizierte
Musikerfahrung, sein durchdringender Scharfsinn, sein untrügliches
Qualitätsbewusstsein für Partitur und für Presseerzeugnisse
trug neue Verknüpfungen von Wort und Musik in ein Medium, das
noch hoch geachtet war und nicht im Schatten televisionärer
Populismusorgien lautstark auf sich aufmerksam machen musste, um
wenigstens partielle Abschaffung entgegen zu wirken. Das hatte zum
einen gewiss mit der durchaus dünn besiedelten Medienlandschaft
in der Aufbruchsregion zu tun, mit nicht vorhandener Konkurrenz
also. Zum anderen aber und vor allem mit der Klugheit neuer und
ungewohnter Gedankennahrung und deutlichem Wissensdrang nach tausend
Jahren staatlich verordneter Verblödung. Dieses neu zu prägende
Bewusstsein wurde im Umfeld von „Frankfurter Schulen“
und „Darmstädter Ferienkursen“, aus „Donaueschinger
Musiktagen“ heraus und von „seriellen Laboratorien“
versorgt. Das alles wurde quantitativ und vor allem qualitativ hochstehend
in die expandierenden Rundfunk- und Veranstalterszenarien eingespeist.
Erster Kritiker und sozusagen Lordsiegelbewahrer der Qualität:
Ulrich Dibelius. Sein heute auf achthundertachtundachtzig Seiten
zusammengefasstes Analysieren der Zeitgenossenschaften (Ulrich Dibelius:
Moderne Musik nach 1945, München/Zürich 1998) liefert,
immer aus dem Augenblick heraus beurteilt, authentischen Einblick
in ein halbes Jahrhundert musikalischer Entwicklung, vor einem Publikum
weg und auf ein Publikum zu. Spiegelt auch in der sprachlichen Haltung,
ihrer ambitionierten, auf Genauigkeit und Ästhetik bedachten
Brisanz, ein unverzichtbares Kompendium künstlerischer Position
samt ihrer Veränderungen der Gesellschaft. Das Streiten, das
Ästhetisieren, das Polemisieren das Provozieren, das Mitvollziehen
und Mitgestalten kreativer Konflikte hält gut durchblutet nicht
nur im Gehirn. Wer engagiert kritisiert, überzieht zuweilen
– aus lauter Liebe der Sache gegenüber. Wer sich weit
aus dem Fenster lehnt, fällt zuweilen heraus. Nicht, dass ihm
das passiert wäre.
Aber Mut und Risikofreude, Urteil und Urteilsschelte sind Teil
dieser künstlerischen und soziologischen Zeitgeschichte in
Essays und Mini-Essays im Spiegel des sich ändernden Geistes
einer jeweiligen Epoche. Ulrich Dibelius hat sich dem in all seiner
musikalischen Empfindsamkeit (wie auch auseinandersetzungswilligen
Empfindlichkeit) stets in vorderster Linie ausgesetzt und gestellt.
Die Entwicklung zeitgenössischer Musik, die permanente und
exkursive Veränderung des Radios, die sammelnde und summierende
Wissenschaft von der Musik danken Ulrich Dibelius viel. Er selbst
dankt der Musik in diesem Zeitalter, das zunehmend mit der atemlosen
Anbetung der eigenen und zutiefst selbstsüchtigen Ich-Ausprägung
beschäftigt ist, die Differenziertheit im Geist, die Wachheit
im Körper, die Klugheit im Reagieren.
Und wenn er – wie jüngst anlässlich der taktlos-live-Sendung
aus dem Münchner Literaturhaus erlebt werden konnte –
als der „nach Zahl an Jahren am wenigsten junge“ vor
allem einige höchst agile, musikalisch agierende Jung-Literaten
völlig unprätentiös und uneigennützig und uneitel
auf deren schwächelnde Konzepte hinwies, sie seinem denkerischen
und künstlerischen Vermögen konfrontierte, da war er ganz
einfach und unwidersprochen der Jüngste, Agilste, Kreativste.
Und die Jüngeren zeigten sich imstande, ihn zu verstehen. Möge
das so bleiben.