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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 6
53. Jahrgang | November
Portrait
Meine Neugier ist unersättlich
Björks vogelwilde Schwester: die Komponistin & Produzentin
Helga Pogatschar
Von wem ist da die Rede? „Er hat Musik zu Pornofilmen gemacht,
Schlager und auch Neue Musik. Ein vogelwilder Heini.“ Natürlich
von Maestro Ennio Morricone, der am 20. Oktober in der Münchner
Philharmonie ein Konzert gab. Und die, die da so nonchalant das
musikalische Universum des Meisters beschrieb, war eine Kollegin:
die Münchnerin Helga Pogatschar (38), die gerade in den letzten
Vorbereitungen steckt zu ihrem neuesten Projekt, dem multimedialen
„Traumtext“ – nach einer Vorlage von Heiner Müller.
(Premiere in der Muffathalle: 6. November, 21 Uhr; weiterer Termin
am 7. November, 20.30 Uhr). Ihren Morricone hat Pogatschar im Übrigen
bei ihrem großen Lehrer und Mentor Enjott Schneider kennen
gelernt, der gerade in einem Süddeutsche-Interview bekanntgab,
sich von der Filmmusik („Schlafes Bruder“) etwas zurückzuziehen.
Die Pogatschar hat diesen Schritt schon vor einigen Jahren getan,
als sie die Auftragsarbeiten für Industrie und TV – wegen
der Phantasielosigkeit der Redakteure – anfingen, anzuöden.
Inzwischen ist sie zur „Marke“ geworden, zur begehrten
Komponistin für Medienkunst und Musiktheater. Ihre letzte CD
„Inanna“ bezeichnete ein Kritiker schlicht als „Soundtrack
des Jahres – ohne Film“.
Helga Pogatschar
Den vielleicht spektakulärsten Auftrag erhielt sie in diesem
Jahr von der Klassik-Redaktion des Bayerischen Rundfunks: „Tims
wundersame Sternenreise“, die Vertonung einer Geschichte von
Rudolf Herfurtner. Zwölf Stunden lang standen Pogatschars „Sternenbilder“
am 9. Oktober im Mittelpunkt einer Bayern 4 Klassik-Aktion. Zusammen
mit dem Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen hatte der öffentlich-rechtliche
Klassiksender zu einer „Sternenreise“ eingeladen. Schüler
von zwölf bayerischen Musikschulen haben Pogatschars zwölf
„Sternzeichen“-Kompositionen eingespielt. Bayern 4-Redakteur
Leonhard Huber zeigte sich von der Qualität des Ergebnisses
beeindruckt: „Die Aufnahmen zeigen, welch tolle Arbeit von
den Schulen geleistet wird.“ Im Hörfunk erzählte
Pogatschar den Kindern sehr anschaulich, wie sehr sie beim Komponieren
assoziativ arbeitet. Zum Beispiel beim Skorpion. Klein und lauernd
sei das Tier und gefährlich wie der „Weiße Hai“.
Und schon entwickelte sich das bedrohliche „Skorpion“-Thema.
Eine klassische Programmmusik ist so entstanden. In der Hörspiel-
und Medienkunst-Abteilung des Bayerischen Rundfunks ist Helga Pogatschar
inzwischen zu einer Art „Hauskomponistin“ geworden.
Produktionen wie Thomas Harlans „Rosa – die Akte Rosa
Peham“ oder Raoul Schrotts „Tristan da Cunha“
sind sogar als Hörbucher erschienen. Für letzteres Hörspiel
schrieb Pogatschar eine unglaublich melancholische Musik für
eine einsame Insel.
In der Neuen Musik hat Helga Pogatschar ihr Biotop gefunden. Sie
scheint den Ruhelosen tatsächlich eine Art von musikalischer
Heimat zu bieten, jenseits des großen Trubels. Während
die einen lauthals nach einer „Elite“ und nach einer
„University of Munich“ schreien, zieht sich die Pogatschar
lieber zurück in ihr Heimstudio und arbeitet an ihren Projekten.
Blinder Aktionismus und Selbstdarstellung sind dem pragmatischen
Dickschädel zuwider. Ähnlich wie Björk ist die Pogatschar
ein verspieltes „Kind der Freiheit“, mit einer unersättlichen
Neugier nach (musikalischen) Grenzerfahrungen. Durch und durch ein
Geschöpf des 21. Jahrhunderts – mit Wurzeln in der Romantik!
– ist sie nicht ganz von dieser Welt und jener Welt. Wie Björk
ist sie ein moderner Zwitter, verbunden gleichermaßen mit
Natur und Technik. Eine freie Künstlerin, manche mögen
sie als „vogelfrei“ sehen, die keine Verbote kennt.
Und das scheint wohl der tiefere Grund zu sein, warum sie ihren
Platz in der – noch geschützten! – Neuen Musik
fand, deren „Pluralität“ sie so schätzt, und
nicht in der Pop-Musik, die sie im Übrigen sehr liebt, die
sich aber letztlich doch an der Anzahl der verkauften Einheiten
orientiert. Trip Hop, Ambient oder Techno verwendet sie deshalb
genauso gern wie Obertongesang in ihren „Hörkino“-Stücken.
Der Drive und die Energie des Workaholics ist nach wie vor bewundernswert.
Ende der Neunziger erregte etwa ein schmales schwarzes Büchlein
von Klaus Theweleit die Aufmerksamkeit von Helga Pogatschar. „Heiner
Müller. Traumtext“ stand da in roten Lettern auf dem
Umschlag zu lesen. Ihr fiel dazu spontan eine Sentenz aus Müllers
„Germania 3“ ein: „Die Gespenster schlafen nicht.
Ihre bevorzugte Nahrung sind unsere Träume.“ Müllers
(allerletzter) herzzerreißender „Traumtext“ zog
sie in seinen Bann: „Ich gehe, meine Tochter, sie ist zwei
Jahre alt, in einem aus Bambus geflochtenen Korb auf dem Rand eines
riesigen Wasserbeckens entlang, rechts oder links von mir, je nach
der Richtung meines Rundgangs, (die einzige Wahl, die ich habe),
eine unersteigbar hohe Wand, die ebenfalls aus Beton besteht.“
Klaus Theweleit, der große „Leser“ unserer Zeit
(„Buch der Könige“), hat dieses Prosagedicht des
wichtigsten DDR-Autors kenntnisreich kommentiert: „Über
den zwei getippten Seiten steht ‚TRAUMTEXT (1995)‘,
– nicht einfach ,Traum‘. Das lässt die Frage offen,
ob es sich bei diesem ‚Text von einer Verabschiedung‘
um einen tatsächlich so geträumten Traum handelt, geträumt
in einer einzigen Nacht…“
Auf ihrer ewigen Suche nach „Stoff“ hatte Pogatschar
intuitiv das ideale Material gefunden, denn „Traum ist Text“,
schreibt Theweleit. „Traum heißt das, existiert nicht
außerhalb und nicht unabhängig von Kunstformen oder von
Medienkonstellationen. Traum ist Kunst, Traum ist technisch, oder
er ist nicht. Müllers Titel Traumtext scheint das Wissen davon
auszudrücken.“ Auch die Pogatschar, die schon 1995 dem
Kriegsgott „Mars“ ein merkwürdig melancholisches
Requiem widmete, musikalisch den großen Mythen „Lilith“
oder „Titus Andronicus“ (in der Bearbeitung von Heiner
Müller und Albert Ostermaier) nachspürte, weiß davon.
Zuletzt verwandelte sie das sumerische Epos „Inanna“
– mit streng wissenschaftlicher Unterstützung! –
in einen babylonischen Singsang, einen „Ohrwurm“ (SZ)
des 21. Jahrhunderts. Eine „Tanzoper“ nennt Helga Pogatschar
nun ihre Adaption von Heiner Müllers „Traumtext“.
Sie will darin musikalisch – mit 50 Musikern und dem katalanischen
Tänzer und Choreographen Cesc Gelabert – und multimedial
„jenem inneren Kampf zwischen Wissen, Ahnen und Verdrängen“
vielschichtig nachspüren. Eine Oper für Doktor Freud also?
„Vielleicht auch, aber vor allem ein Geschenk an Heiner Müller“.