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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 39
53. Jahrgang | November
Bücher
Vermittlung als ästhetisches Medium
Eine Dissertation beleuchtet Arnold Schönbergs Lehrtätigkeit
Sointu Scharenberg: Überwinden der Prinzipien. Betrachtungen
zu Arnold Schönbergs unkonventioneller Lehrtätigkeit
zwischen 1898 und 1951, Pfau-Verlag, Saarbrücken 2002,
438 S., Abb., € 45,00, ISBN 3-89727-110-9
Die Behauptung des ersten Satzes in Arnold Schönbergs „Harmonielehre“
(1911), er habe dieses Buch von seinen Schülern gelernt, war
mehr als kokettes Understatement. Gewiss absichtsvoll trat Schönberg
seinem Ruf als „Meister“, der eine Schar treu ergebener
Jünger um sich versammelt, mit devoter Geste entgegen. Sich
öffentlich als jener autoritärer Lehrer aufzuspielen,
der er war, hätte potenzielle Schüler abgeschreckt; das
Einkommen aus seiner Lehrtätigkeit aber benötigte der
Familienvater dringend. Doch selbst da, wo Schönberg taktisch
vorging, und er tat dies in allen seinen Schriften, bewahrte er
den Kern seines künstlerischen und ethischen Verständnisses,
und das heißt hier, in diesem ersten Satz: Sein Unterricht
war ein Geben und Nehmen, war Bewegung für alle Beteiligten.
So fährt er im Vorwort zur „Harmonielehre“ fort:
„Nur die Bewegung bringt hervor, was man wirklich Bildung
nennen könnte. Nämlich: Ausbildung, Durchbildung.“
Zu Recht charakterisiert Scharenberg Schönbergs Lehrtätigkeit
bereits im Untertitel als „unkonventionell“. Zum einen
nutze Schönberg „den Prozess der Vermittlung fachlicher
Qualifikationen als ästhetisches Medium zur Vermittlung seiner
im Grunde ethisch-moralischen Ziele“ (S. 9). Unkonventionell
war zum anderen die Methode, über die die Autorin nur am Rande
berichtet, etwa mit dem Satz: „Durch eine möglichst große
Anzahl gemeinsam zusammen getragener Varianten zu einem von ihm
(oder einem der Schüler) aufgeworfenen kompositorischen Problem
sollte sich nach und nach ein persönlicher Fundus an situativen
(kompositorischen) Verhaltensmustern ansammeln“ (S. 49). Vor
allem aber reagierte Schönbergs pädagogisches Konzept
auf die Institutionen, mit denen er im Laufe seiner über fünf
Jahrzehnte umfassenden Lehrtätigkeit zusammen arbeitete. „In
weitgehenderem Maße als bislang angenommen erklärt sich
Schönbergs pädagogisches Handeln aus seiner kreativen
Auseinandersetzung mit den Vorgaben derjenigen Institutionen, an
denen er tätig war. Demnach ist auch seine Lehrtätigkeit
nicht vorrangig durch seine Person bestimmt, die zumeist als charismatisch,
aber dabei egozentrisch und herrisch gezeichnet wird, sondern durch
die Auseinandersetzung dieser Persönlichkeit mit der ebenso
wechselhaften Kulturpolitik, die sie durchlebt“ (S. 258).
Scharenberg ist von Haus aus Musikpädagogin. Deshalb liest
sie, ausgehend von Johannes Hodek, den Fall Schönberg als Musterbeispiel
dessen, was Gegenstand von Musikpädagogik sein könnte,
wenn man sie als wissenschaftliche Disziplin ernst nähme. Ihr
analytisch geschärfter Blick erfasst Institutionengeschichte
und inhaltliche Konzepte, ohne die Begegnung mit den Menschen, die
dies alles be- und vorangetrieben haben, aus den Augen zu verlieren.
In diesem Sinne beschreibt sie die Funktion der „Lehrer“
Schönbergs (Franz Willomitzer, Oscar Adler, Alexander Zemlinsky),
charakterisiert die pädagogischen Vereine und Projekte, für
die er sich engagierte, sowie die Institutionen, für die er
arbeitete. Lebendig wird sein Unterrichtsstil, wenn Scharenberg
Vergleiche zu dem Schrekers, Hindermiths und Nadia Boulangers zieht;
da verkneift sie sich auch kritische Bemerkungen nicht länger,
auch wenn ihre Arbeit von einer grundsätzlichen Sympathie für
das Wirken Schönbergs getragen ist. In den letzten Jahren hat
das Arnold Schönberg Center in Wien das Gesamtwerk Schönbergs
zunehmend katalogisiert und der Öffentlichkeit den Weg gewiesen.
Gleichwohl sah die Autorin eine entmutigende Vielzahl an Bibliotheken
und Nachlässen vor sich, um Dokumente der in die ganze Welt
verstreuten Schüler Schönbergs ausfindig zu machen.
Nahezu die Hälfte des Buches nimmt denn auch der Anhang ein,
indem sich wahre Kostbarkeiten finden: Briefe zum „Bärenreiter-Fall“
(der Bärenreiter-Verlag versuchte 1929, seine Ausgaben mittels
der Berliner Akademie der Künste als Lehrmaterial an den höheren
Schulen durchzudrücken; Schönberg schrieb hierzu ein grimmiges
Gutachten), Unterrichtsmaterialien aus den USA, zum Teil vierfarbig
(!) gedruckte Abbildungen der zahlreichen Hilfsmittel, die Schönberg
bei Reihenkompositionen anwendete, Gesprächsprotokolle anlässlich
der geplanten Arnold-Schönberg-Bibliothek, die in Wien mit
Hilfe der Universal Edition gegründet werden sollte, eine wunderbar
kitschige und gleichzeitig kluge Würdigung des Komponisten
und Lehrers durch Eugenie Schwarzwald, in deren Schule Schönberg
regelmäßig unterrichtete, vor allem aber eine Liste der
Schüler Schönbergs, die in diesem Umfang wohl nie zuvor
veröffentlicht worden ist. Dass dem entsprechende Kurzbiografien
folgen, zeigt, wie sehr es der Autorin um Benutzbarkeit ihrer Arbeit
ging, auch wenn sich das Buch nicht an den Schönberg-Anfänger
richtet. Wer immer etwas über den Lehrer Schönberg wissen
will, wird hier mehr als fündig werden.