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nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 38
53. Jahrgang | November
Rezensionen
Rezensieren und Rezessionen oder Kopfpauschale gegen Kopfgeld
Die größten Hits gegen Neuveröffentlichungen
Hysterisch könnte man werden: Opel, Karstadt, Merz, die Bahn
sowieso, Sebastian Deisler und in Florida stand das Ergebnis der
US- Wahl bereits Ende Oktober fest. Durchhalten sei da empfohlen,
auf keinen Fall aggressiv werden und kompensieren.
Warum nicht mit John Denver? Die Song-Sammlung „A Song’s
Best Friend – The Very Best Of“ der Songwriter-Legende
(über 60 Millionen Alben weltweit, 1997 bei einem Flugzeugabsturz
verstorben) stellt sich vorweihnachtlich mit Denvers größten
Hits in aufpoliertem Sound vor. In die gleiche Kerbe schlägt
der ex-King of Pop Michael Jackson. Weil die Knete rar wird und
aus „Neverland“ Everland wurde, gibt es ab sofort die
sagenhafte CD Box „The Ultimate Collection“ mit über
sechs Stunden Spieldauer, einer Zusatz DVD (Live in Bukarest), dazu
ein 64-seitiges Booklet in edler Ledergestaltung und Millionen Features
von Fotos über Demoaufnahmen bis Discographie und unveröffentlichten
Songs und Versionen. Nicht nur ein Opfer in die Kollekte, ja, auch
ein moralischer Solidaritätskauf. Der nächste Superstar
wäre dann Neil Young, der sich herabließ seine „Best
of“ – Pinakothek zu kreieren. Eine Bilanz sicher nicht,
eher ein „Post-it“-Album, denn es ist zu befürchten,
dass Neil Young noch lange weiter macht. Auch John Mellencamp lässt
sich nicht lumpen und schiebt seine „Greatest Hits“
unter den Rezessions-Weihnachtsbaum. Immerhin mit zwei neuen Songs,
aber schön ehrlich ist Mellencamps Songarsenal unweigerlich.
Einer der letzten Popsongwriter mit amerikanischer Würde. Selbst
die vermeintlich modernen Stilrichtungen entziehen sich dem „best
of“-Wahn nicht. Bei Depeche Mode darf es „Remixes 81>04“
sein, eine Doppel CD, in der sie die Jahre 1981-2004 „neu
schüttelnd“ resümieren. Klingt übrigens wirklich
mehr im Präsens. Schon noch ein Star, wenngleich nicht so plakativ,
ist Andy Summers, der ehemalige Gitarrist der Sting-Fußabtreter
Band „The Police“. „X-Files“ nennt er sein
Kollektiv aus fünf Soloalben und diversen Kollaborationen.
Mit dabei sind unter anderem Sting, Debbie Harry und Rapper „Q-Tip“,
der eben die aktuelle Platte von R.E.M. mit feinen Raps auf Hochglanz
gewienert hatte. Zuletzt auf der Baustelle des alten Songmaterials:
die alternativen Rocker aus UK: Placebo. Unbedarft pfeffern sie
ihre Singles der Jahre 1996 – 2004 auf eine CD, holen einen
neuen Song aus der Schublade und vollendet zeigt sich der Panorama-Blick
„Once More With Feeling“ über die subkulturellste
aller Gitarrenbands.
Zwischendrin hängt eine Wieder- Veröffentlichung aller
14 CAN-Alben im Namen des bestmöglichen Sounds, der den Experimentalisten
um Holger Czukay im SACD-Format so nahe kommen möchte, wie
man das von Vinylscheiben kennt. Begonnen hat der Reigen mit den
Alben „Monster Movie, Soundtracks, Tago Mago, Ege Bamyasi“.
Restauration gelungen.
Nun zu Ungehörtem, möchte man sich betörend einreden.
Die kanadische Band „Four Square“ hat es kapiert. Keine
Allüren, nur Rocksongs zählen. Deshalb haben sie auf „Industry
At Home“ zwölf unklobige Nummern verfasst, die unglaubliche
Stärken in Gesang und Gitarre vereinen. Blühende Rockmusik
im Stil erwachsener Musiker. Mehrköpfig und geschlechtlich
verteilt sind seit jeher „The Polyphonic Spree“, der
Massenchor um den amerikanischen „Gotthilf Fischer“
Tim Delaughter. 23 Bandmitglieder singen diesmal als wären
sie Engel und wäre darunter nicht Popmusik mit kalorienarmen
Melodien bis zu zehn Minuten Dauer, würde man sich in einen
Weihrauchtempel entführt glauben. „Atömström“
nennt sich ein genialer Sampler mit Artisten der schwedischen Indiepop-Szene,
der am 22. November erscheint. Rebellisch und zeremoniell zeigen
„Caesars, The Hives oder Broder Daniel“ wie unarrogante
Songs sein dürfen. Geschmaust und Seelen massierend erfreut
Lemongrass durch „Fleur Solaire“, ein Chillout/Downbeat-Werk
des Sound-Modellierers Roland Voss. Eine Wiese voller Sonnenblumen
im schwerelosen Zustand möchte man da sein. John Frusciante
hängt sich da mit „Inside of Emptiness“, seiner
vierte Soloplatte 2004, inhaltlich dran. Soundmäßig wechselt
er zwischen brüsk und samtig, bleibt seiner 70er geprägten
Songwriter Linie aber treu. Ein realistisches Werk. David Judson
Clemmons war einst bei „The Fullbliss“, zwei Jahre hat
er am Soloalbum gedreht, „Life in the Kingdom of Agreement“
kam nun heraus. Eine elegische Songpyramide, gesteinmetzt als Songwriter
mit Band. DJC vereint Ionen von Elliott Smith, Frusciante und David
Poe zu einem beklemmenden Kosmos. Anhören, weinen und Rotz
wischen. Zarte Frauenstimmen verlieren nie an Magie. Deshalb haben
Klee mit „Jelängerjelieber“ nach dem ersten Song
gewonnen, denn Suzie Kerstgens sticht uns mit ihrem Butter weichen
und rührenden Gesang mitten ins Harm gegerbte Herz. Unpelziger
Deutschpop ohne Trittbrettfahrer-Gefahr. Crash Tokio (mit Bandmitgliedern
von Viriginia Jetzt! oder Miles) kommt uns britisch in die Quere.
Eine AquaplaningFahrt vollführen sie auf „We are plastic“,
sind dabei wunderbar hymnisch poppig und bleiben hängen weil
im Understatement verhaftet. Nach einem Zitat aus Hesses Steppenwolf
nennt sich DAAU. Ein Orchester übrigens. Klassik mit Rockintention,
Streichquartett mit Jazzfolklore. Rock war nie „Klassiker“
als auf DAAU’s „Tub Gurnard Goodness“. Ein Stilbruch
nun, denn Ciara avanciert zu einer der „Top Fünf“
R&B Königinnen. Spartanisch die Arrangements, gazellig
der Gesang und „Goodies“ kennt man wohl jetzt zur Genüge.
Ein Album mit redundanten Whitney Houston artigen Songs.
Sven Ferchow
Diskografie
• John Denver: A Song’s Best Friend
– The Very Best Of (BMG)
• Michael Jackson: The Ultimate Collection (Sony)
• Neil Young: Greatest Hits (Warner)
• John Mellencamp: Greatest Hits (Universal)
• Depeche Mode: Remixes 81>04
• Andy Summers: The X-Files (CNR Records)
• Placebo: Once More With Feeling (Virgin)
• CAN: Monster Movie, Soundtracks, Tago Mago, Ege Bamyasi
(Spoon Records)
• Four Square: Industry At Home (Bad Taste Records)
• The Polyphonic Spree: Together We’re happy (Good
Records)
• V.A.: Atömström (Panatomic)
• Lemongrass: Fleure Soleil (Mole)
• John Frusciante: Inside of Emptiness (Warner)
• David Judson Clemmons: Life in the Kingdom of Agreement
(Village Slut Records)
• Klee: Jelängerjelieber (V2)
• Crash Tokio: We are plastic (Tapete Records)
• DAAU: Tub Gurnard Goodness (PIAS)
• Ciara: Goodies (BMG)