[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/11 | Seite 37
53. Jahrgang | November
Rezensionen
Haydn bis Holliger
Jüngst aufgenommene Violinkonzerte
„Pizzicato tremolando“: Dieser durch ein besonderes
Anschlagen der Saiten mit mehreren Fingern erzeugte Effekt –
eine Erfindung Edward Elgars – ist das Signal dafür,
dass in dieser Kadenz Besonderes geschehen wird. Sie wird mehr sein
als ein letztes Virtuositätenkabinett vor der Schluss-Stretta
eines Finalsatzes, mehr als ein wehmütiger Rückblick der
Solovioline auf das in den vorangegangen Sätzen Durchlebte.
Das erregte Zittern im Untergrund bettet die Geige nicht einfach
auf Blumen, es erinnert daran, dass deren Ton bei allem Aufblühen
gefährdet sein könnte, im nächsten Moment in ganz
andere Bezirke wegzudriften. Es verwandelt diese über sieben
Minuten währende begleitete Kadenz in eine dramatische Szene,
ein Konzert im Konzert.
Künstlerischer Ernst,
konkurrenzloses Spiel: Hilary Hahn gibt Elgar und Vaughan
Williams Raum. Foto: Kasskara/DG
Hier erweist sich endgültig, was Hilary Hahn mit ihrer Neueinspielung
des Elgar-Konzertes gelungen ist: die Rückführung eines
in epischer Breite sich verströmenden Konzert-Kolosses auf
seinen Ausdruckskern. Der besteht nicht darin, die Übergänge
von einer Note zur nächsten mit breiten Portamenti zu verschleifen
und so die zu immer neuen Bögen gruppierten Phrasen möglichst
bruchsicher zu verkleben, er äußert sich vielmehr in
dem bei entsprechender Tongebung natürlich sich entfaltenden
melodischen Fluss, den es durch Differenzierungen in der Binnengestaltung
von Tempoeinheiten zu gliedern gilt. Das flexible Mitgestalten des
London Symphony Orchestra ermöglicht diese Haltung, Hilary
Hahns derzeit wohl konkurrenzloses Spiel erfüllt sie.
Sogar in den offenbar unvermeidlichen Starfotos spiegelt sich
etwas von dem künstlerischen Ernst wider, den auch ihre Person
ausstrahlt. In Ambiente und Farbgebung versuchen sie zumindest andeutungsweise
den Geist jener vergangenen Epoche heraufzubeschwören, den
auch die Musik ausstrahlt. Was dagegen ein offenbar als Sponsor
fungierendes Berliner Nobelhotel, auf dessen Chaiselongue sich die
20-jährige Baiba Skride entsprechend bekleidet räkeln
darf, mit Mozart und Michael Haydn zu tun hat, bleibt ein Rätsel.
Die Gewinnerin des Reine-Elisabeth-Preises macht mit ihrem gesunden
Ton und ihrer stilistischen Sicherheit nichts verkehrt und lässt
sich in der Haydn-Rarität sogar ein wenig vom luftigen, kontrastreichen
Klang des Kammerorchesters C. Ph. E. Bach anstecken.
Bis auf die gleiche, Mozart gleichsam aus dem Blickwinkel Paganinis
betrachtende Kadenz Sam Frankos im ersten Satz gibt es da kaum Gemeinsamkeiten
mit dem Litauer Julian Rachlin. Bei ihm wird Mozarts drittes Violinkonzert
mit schlankem, fast gläsernen Ton bisweilen gar ein wenig nachlässig
hingeworfen. Manch originelle Phrasierungsidee und ins Non-vibrato
auslaufende Passage lässt aufhorchen, ebenso der nachdenkliche,
nicht einfach bloß ausgesungene Mittelsatz, den Rachlin und
das sehr sorgfältig begleitende BR-Symphonieorchester unter
Mariss Jansons in ein kleines von der Oper her gedachtes Drama verwandeln.
Auch im Kopfsatz des Brahms-Konzertes greift sein Ansatz noch, der
jeder großen vibratogesättigten Geste misstraut und stattdessen
mit harsch stechenden, fast trotzigen Doppelgriffketten nach der
inneren Dramatik sucht. Der bloß angenehm luftige Finalsatz,
vor allem aber das klanglich wie intonatorisch ziemlich verunglückte
Adagio können dieses Niveau freilich nicht halten.
Rachlins Bruder im Geiste scheint der zweite junge Grammophon-Geiger
Ilya Gringolts zu sein. Sein asketischer Ton, der keine Drücker,
kein Schwelgen zulässt, verwandelt das Sibelius-Konzert in
eine moderne Klangstudie, was im zweiten Satz freilich bis ins Näselnde,
Unattraktive geht. Auch das extrem abgebremste Finale überzeugt
in seiner grimmigen Verbissenheit zunächst, erweist sich bei
den Spielfiguren dann aber als arg gesucht und manieristisch. Demgegenüber
wirkt Henning Kraggerud bei Naxos eindimensional, stellt seine solide
Technik aber immerhin auch in den Dienst des kaum bekannten ersten
Konzerts von Christian Sinding, einem in der Form originellen, harmonisch
und in der konzertanten Zuordnung indes wenig visionären Werk.
Auch für das zweite Stück auf Gringolts‘ neuer
CD, das erste Violinkonzert Sergej Prokofieffs, gibt es eine aktuelle
Konkurrenzeinspielung. Wo der durchaus eigensinnige Russe grelle
Fratzen schneidet und auch eine etwas prekäre Intonation in
Kauf nimmt, wählt Julia Fischer einen ausgewogenen Mittelweg.
Ihr zweiter Satz ist schneller, vielleicht auch vordergründiger,
doch wo im dritten Satz Gringolts‘ Interesse erloschen zu
sein scheint, setzt Fischer noch einmal nach. Aufmerksamkeit verdient
das – mit Glasunows etwas altväterlichem Konzert als
drittem Programmpunkt prall gefüllte – CD-Debüt
der 21-Jährigen aber vor allem wegen ihres fulminanten Einsatzes
für die mitunter geschwätzige, dafür aber rhythmisch
mitreißende Brillanz des Khatchaturian-Konzertes. Das ist
technisch über jeden Zweifel erhaben und beweist Geschmack
beim Umschiffen der ein oder anderen Kitsch-Klippe.
Die nur zwei Jahre ältere Arabella Steinbacher steht ihr da
im Grunde in nichts nach, vor der geigerischen Bewältigung
muss man angesichts einer Live-Aufnahme den Hut vielleicht sogar
noch tiefer ziehen. Die Klangqualität dieses Mitschnitts aus
dem Münchner Gasteig erscheint allerdings, was die Orchesterpräsenz
angeht, neben der SACD Julia Fischers beinahe vorsintflutlich. An
die Stelle der hellwachen Verzahnung mit dem von Yakov Kreizberg
fantastisch befeuerten Russischen Nationalorchester tritt hier das
zweidimensionale Zerfallen in einen bewundernswerten Solovorder-
und einen dumpf-mulmigen Orchesterhintergrund. (Dass das City of
Birmingham Symphony Orchestra ganz anders klingen kann, zeigt die
Studio-Aufnahme des Khatchaturian-Cellokonzerts).
Zurück ins Standardrepertoire führt uns Frank-Peter
Zimmermann mit einem vor interpretatorischer Intelligenz und leicht
distanziertem Spielwitz schier berstenden Tschaikowsky-Konzert.
Bruch bedarf da einer stärkeren emotionalen Identifikation;
Zimmermann ist dazu bereit und bringt die notwendige Differenzierung
in Tongebung und Vibrato mit, sie zu beglaubigen.
Intellektuell auch der Zugriff Renaud Capuçons auf das
Mendelssohn-Konzert. Stärker noch als der Solopart selbst,
der nur gelegentlich durch das ein wenig konturlose Legato beeinträchtigt
erscheint, überzeugt hier die Partnerschaft mit dem fabelhaften
Mahler Chamber Orchestra. Auf die Erfahrung mit Originalklang-Dirigenten
aufbauend lässt es sich von Daniel Harding zu einem transparenten,
kammermusikalisch lebendigen Dialog mit dem Solisten animieren,
der klanglich nicht auf Brahms voraus, sondern auf Mozart zurückweist.
Davon profitiert auch das nach wie vor sträflich vernachlässigte
Spätwerk Schumanns. Vor allem der Kopfsatz des allgemein als
sperrig und undankbar beiseite geschobenen Konzerts entwickelt eine
intensive, dabei nie eingedickte oder forcierte Dringlichkeit und
für den Finalsatz, dessen ungewöhnlicher Satzcharakter
als langsame Polonaise in viel zu schnellen Interpretationen regelmäßig
massakriert wird (einzig Gidon Kremer und Nikolaus Harnoncourt wagten
das Originaltempo), findet diese Neueinspielung einen spielbaren,
überzeugenden Kompromiss.
Wem das alles zuviel des (überwiegend) jugendlichen Konzertüberschwanges
wird, dem bleiben zwei Alternativen. Da wäre Heinz Holligers
Violinkonzert, eine in der sezierenden Bloßstellung geigerischer
Möglichkeiten kompromisslose Hommage an den Schweizer Maler
(und Geiger) Louis Soutter, dessen letzter Satz „alle Brillanz
und Virtuosität von vorher verschluckt“, so Holliger
treffend. Wie Thomas Zehetmairs Violinton sich über dem desolaten
Brummen des Orchesters noch einmal gebrochen kraftlos erhebt und
einen letzten Gang über diese zerborstenen Klangfelder antritt,
das ist ohne Beispiel.
Und da wäre Ralph Vaughan Williams‘ meisterhafte Miniatur
„The Lark Ascending“. Wie Hilary Hahn diese auskomponierte
Spannung zwischen dem auch in der Musik naturhaft Klingenden und
einer imaginären Volksmusik erstrahlen lässt, öffnet
die Ohren wieder. Für Altes, für Neues.
Juan Martin Koch
Diskografie
• Elgar: Violinkonzert, Vaughan Williams:
The Lark Ascending, Hilary Hahn, London Symphony Orchestra, Colin
Davis, Deutsche Grammophon 00289 474 5042
• Mozart: Violinkonzert Nr. 3, Rondo C-Dur, Schubert: Rondo
A-Dur, Michael Haydn: Violinkonzert B-Dur, Baiba Skride, Kammerorchester
Carl Philipp Emanuel Bach, Hartmut Haenchen, Sony Classical SK
92939
• Mozart: Violinkonzert Nr. 3, Brahms: Violinkonzert, Julian
Rachlin, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss
Jansons, Warner Classics 2564 61561-2
• Prokofieff: Violinkonzert Nr. 1, Sibelius: Violinkonzert,
Ilya Gringolts, Göteborgs Symfoniker, Neeme Järvi, Deutsche
Grammophon 474 814-2
• Sibelius: Violinkonzert, Sinding: Violinkonzert Nr. 1,
Henning Kraggerud, Bournemouth Symphony Orchestra, Bjarte Engeset,
Naxos 8.557266
• Khatchaturian/Glasunow: Violinkonzerte, Prokofieff: Violinkonzert
Nr. 1, Julia Fischer, Russian National Orchestra, Yakov Kreizberg,
PentaTone Classics 5186 059 (SACD)
• Khatchaturian: Violinkonzert, Cellokonzert, Arabella Steinbacher,
Daniel Müller-Schott, City of Birmingham Symphony Orchestra,
Sakari Oramo, Orfeo C 623 041 A
• Tschaikowsky/Bruch: Violinkonzerte, Frank Peter Zimmermann,
Oslo Philharmonic Orchestra, Manfred Honeck, Royal Philharmonic
Orchestra, Paavo Berglund, Sony Classical SK 93129
• Mendelssohn/Schumann: Violinkonzerte, Renaud Capuçon,
Mahler Chamber Orchestra, Daniel Harding, Virgin Classics 7243
5 45663 2 5
• Holliger: Violinkonzert „Hommage à Louis
Soutter“, Eugène Ysaye: Sonate für Violine Solo
Nr. 3, Thomas Zehetmair, SWR Sinfonieorchester, Heinz Holliger,
ECM New Series 1890 476 1941