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nmz-archiv
nmz 2004/12 | Seite 8
53. Jahrgang | Dez./Jan.
Stüclwerk
Vorbilder fühlbar, den Wendepunkt hörbar machen
Claude Debussys „Suite bergamasque“, bearbeitet für
Streicher · Von Martin Curschmann
Anlass meiner Beschäftigung mit Debussys „Suite bergamasque“
war ein Auftrag des Hamburger „Ensemble Resonanz“, für
Mai 2004 eine neue Bearbeitung des Klavierwerks für die Besetzung
fünf erste, fünf zweite Geigen, vier Bratschen, drei Celli
und einen Kontrabass zu erstellen. Neu deshalb, weil von der Suite,
insbesondere vom dritten Satz, schon einige Bearbeitungen für
die verschiedensten Besetzungen existieren.
Ich selbst kam als 13- oder 14-Jähriger mit der Musik Debussys
in Berührung, in einem Würzbur- ger Gesprächskonzert.
Das „Prélude à l’après-midi d’un
faune“ muss einen so starken sinnlichen Reiz auf mich ausgeübt
haben, dass ich danach einige Zeit völlig abwesend gewirkt
haben muss. Später habe ich dann, wie wahrscheinlich viele,
einzelne Stücke wie die „Arabesque“ kennen gelernt.
Das „Clair de lune“ fand sich auch auf einer für
die Zeit typischen (vielleicht gar nicht so schlechten), von mir
viel gehörten und intensiv beschwärmten Kompilation romantischer
Klaviermusik. Das übrige Werk Debussys habe ich mir später
quasi von hinten her, also mit dem Spätwerk angefangen, erschlossen.
Dabei fiel mir bald auf, dass es im Œuvre Debussys einige Stücke
gibt, die ganz „undebussyistisch“ sind, darunter beispielsweise
„Masques“, „D’un cahier d’esquisses“
und eben auch die „Suite bergamasque“.
Debussys „Suite bergamasque“ in der
Fassung für Streichorchester von Martin Curschmann: „Prélude“,
Takt 64 ff.
Es bedarf wohl kaum einer Erwähnung, dass es eine Phase in
meinem Leben gab, in der ich der gesamten französischen Musik
jener Epoche regelrecht verfallen war und aus dieser Zeit immer
noch eine Art verschleppter Frankophonie mit mir herumtrage. So
musste ich mich auf der Suche nach einem geeigneten instrumentationstechnischen
Ansatz über die Durchsicht der Debussy-Literatur und streicherspezifische
Partiturstudien hinaus unbedingt noch durch die Literatur-, Kunst-
und Kulturgeschichte Frankreichs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
pflügen – bis hin zu einer Pilgerfahrt nach St. Germain
en-Laye, dem Geburtsort des Komponisten.
Dies alles führte einerseits zu der überraschenden Erkenntnis,
dass das, was etwa hierzu in Reclams Klaviermusikführer oder
in den Anmerkungen der verschiedenen Notenausgaben steht, tatsächlich
stimmt, und andererseits dazu, dass ich noch bis in die heiße
Phase der Partiturniederschrift nicht aufhören konnte, wahllos
Informationen verschiedenster Couleur bis zur völligen Überfrachtung
anzuhäufen – meditative Versunkenheit in Architekturzeichnungenen
eines Konzertsaales inbegriffen (weil Debussy ja darin gesessen
haben könnte…).
Annäherungen
Folgende biografische Elemente schienen mir für die Beschäftigung
mit der Suite bergamasque wichtig zu sein: Debussy erhielt seine
ersten Klavierstunden „bei einem alten italienischen Lehrer
namens Cerutti“ in Cannes und hörte dort Grieg. Das mutmaßt
zumindest Jean Barraqué (Claude Debussy, Reinbek 1980; dort
auch die folgenden Zitate) und ich deute Debussys Anspielungen auf
Grieg in der Suite als Beleg dafür.
Mit acht Jahren, also ab 1870, wird er von einer Chopinschülerin
unterrichtet, die kurzzeitig Paul Verlaines Schwiegermutter war.
Mit dem Ziel einer Virtuosenlaufbahn findet Debussy 1872 Aufnahme
am Pariser Conservatoire, 1880 bis 1882 ist er bei Nadeschda von
Meck, der Gönnerin Tschaikowskis, mit Unterbrechungen als „Klavierlehrer,
Begleiter und Vorspieler“, aber auch als Duopartner für
ihren anscheinend immensen „Konsum an Tschaikowskis Musik“
engagiert. Die damit verbundenen Reisen und das neue soziale Umfeld
dürften bei dem aus kleinbürgerlichen Verhältnissen
stammenden Debussy tiefe Eindrücke hinterlassen haben. Eine
„romantische Liebe“ zu Sonja von Meck, der Tochter,
und die „rührende Ungeschicklichkeit“ eines Antrages
führen zum Bruch. In die Zeit vor der Entstehung der Klaviersuite
fallen unter anderem noch der Studienabschluss samt Rompreis, eine
Begleitertätigkeit für die Sängerin Blanche Vasnier,
Kontakte zu Brahms, Liszt Verdi, Leoncavallo und Mallarmé,
die Begegnung sowohl mit „alter Musik“ als auch mit
dem Werk Richard Wagners sowie die Aufnahme einer ersten länger
andauernden Beziehung. Debussy komponierte die Klaviersuite wahrscheinlich
1890, im Alter von 28 Jahren, veröffentlicht wurde sie –
in leicht veränderter Form – allerdings erst 1905, also
nach der Komposition etwa der „Fêtes galantes II“
oder von „La Mer“ und vor Beginn der Arbeit an den „Images“.
Meine „al fresko“-Annäherungen an die Thematik
war zum einen nicht immer streng historisch und zum anderen von
teils heftigen Irrtümern geprägt. Den Pianisten rechts
in dem Bild „Das Atelier des Künstlers“ von Frederic
Bazille (1870) hielt ich stets für Debussy und einen definitiven
Druckfehler (b im oberen, h im unteren System) für einen Einfall
des Komponisten, den Eindruck eines Verspielens beim vierhändigen
Spiel erwecken zu wollen. Rein praktisch habe ich mich durch eine
gewisse Menge Streicherkammermusik (auch Quartette Tschaikowskis)
„durchgefingert“, in der Absicht, möglichst Vieles
möglichst direkt zu „erfühlen“. Denn die Suite
besteht ja aus einer Fülle von Stilzitaten, Ent- und Anlehnungen
von kompositorischen Vorbildern. Schon die Satzfolge „Prélude“,
„Menuet“, „Claire de Lune“ und „Passepied“
stellt ja – ähnlich Griegs Holberg-Suite von 1884/85
– ein typisches Beispiel einer „Suite im alten Stil“
dar.
Vorlagen
Debussy bezieht sich in seinem Werk hauptsächlich auf musikstilistische
Vorbilder des Barock und der Frühklassik, gleichzeitig aber
auch auf zeitgenössische literarische Vorlagen. Hierzu und
wie dies in meiner Fassung in jeweils wechselnden Schattierungen
seinen Niederschlag findet, einige Beispiele (genauere Vergleiche
ermöglichen die Publikationen „Claude Debussy and the
poets“ von Arthur B. Wenk und – mit den genauesten Takt-für-Takt-Analysen
und der anregendsten Bebilderung – „The piano works
of Claude Debussy“ von E. Robert Schmitz):
Der erste Satz, eine improvisierend präludierende Mischform
mit sonatensatzähnlichen Elementen, weist deutliche Parallelen
(nicht nur) zu Bachs F-Dur-Präludium aus dem zweiten Band des
Wohltemperierten Klaviers auf –man „fühle“.
An dem abgedruckten Partiturausschnitt (der durch „Mozart-Triller“
eingeleitete „Repriseneintritt“) lässt sich gut
eine instrumentatorische Metamorphose der nach dem Tutti-sf-Akkord
absteigenden Sechzehntelfigur hin zu einer typischen „Tschaikowski-Verschachtelung“
(also Ablösung erste, zweite Geige etc.) erkennen, außerdem
klangfarbliche Auflockerungen prinzipieller Vierstimmigkeit durch
Oktavverdoppelungen. Das teils gehaltene f‘/f‘‘
der geteilten ersten Violinen (Takt 69/70, im Beispiel rechts oben)
und die nicht einheitliche Phrasierung stellen einen meiner Lösungsversuche
offener Quellenfragen dar, da die verschiedenen Ausgaben, (besonders
in der Phrasierung) voneinander abweichen (das Manuskript Debussys
gilt seit der Drucklegung als verschollen).
Im zweiten Satz – einer äußerst losen Menuettform
(möglicherweise Reminiszenzen einer Barockopern- oder Ballettaufführung?)
– gibt es eine stark an Ravel oder auch an das Fauré-Lied
„Clair de Lune/Menuet“ (op. 46,2) gemahnende Stelle.
Sucht man nach einer Passage, die Debussy vor der Drucklegung geändert
haben könnte, dann könnte es diese sein. Verändert
man nämlich in dieser Passage (Takt 58 ff. bzw. vor dem ersten
Doppelstrich) die Vorzeichensetzung (durch Hinzufügen und/oder
Weglassen), verliert diese Stelle ihren „Ravelcharacter“
wieder. Es wäre also möglich, dass Debussy hier nachträglich
eine Ravel-Anspielung (etwa Menuet antique oder Pavane) eingebaut
hat, um den Vorwurf seiner Kritiker um 1905 ironisch aufzugreifen,
er komponiere wie seine Nachahmer…
In der instrumentatorischen Absicht, an eben dieser Stelle eine
Art „Überkammermusik“ zu suggerieren, löst
sich das Ensemble in meiner Fassung fast völlig in kleine Trios,
Quartette und Soli auf, denkbar auch als Anlehnung an den Pointillismus
in der Malerei etwa Paul Signacs. Ein bewusster Verweis auf ältere
Musizierpraktiken ist meine Vorschrift, das Orchester in Hufeisenform,
also doppelchörig aufzustellen, mit den tiefen Instrumenten
hinten innen und – im Stile eines Concerto grosso –
zwei „Prinzipalgeigen“ vorne außen.
Maskierungen
Diese reelle Klangalterung geht im dritten Satz so weit, dass
erste Bratsche und eine weitere Geige mit den Instrumenten Viola
d’amore und Violino piccolo alternieren. Dieser Satz, ein
echtes Nachtstück, vor dem Druck „Promenade sentimental“
betitelt, wird am ehesten direkt literarisch anhand der Anfänge
des Einleitungs- und des Schlussgedichts aus Verlaines Fêtes-galantes-Zyklus
ausgedeutet: „Clair de lune“ und „Colloque sentimental“.
Dies ist auch eine der möglichen Bedeutungen des Wortes „bergamasque“
(neben dem Tanz Bergamasca bzw. der oberitalienischen Stadt Bergamo
– ich unterstelle einen Zusammenhang zur Musikpflege der dortigen
„Cappella di Santa Maria Maggiore“). Denn zum einen
tauchen die Begriffe „Masques et Bergamasques“ in Verlaines
„Clair de lune“ auf und zum anderen lässt sich
ein literarisch-programmatischer Bezug zwischen den beiden ihrer
Vergangenheit und Liebe nachhängenden „Schemen“
aus „Colloque sentimental“ und Debussys Stück bzw.
Biografie denken. Möglich ist auch – analog zu Verlaine
– eine Interpretation der Suite als harlekineske commedia
dell‘arte-Maskierung Debussys.
Auch ein musikalisches Vorbild wäre wieder „fühlbar“:
Griegs Notturno op. 54, Nr. 4 aus den „Lyrischen Stücken“.
Inhaltlich scheint es hier um etwas Ähnliches zu gehen wie
in älteren Hollywood-Kostümfilmen, wenn sich die Handlung
auf die Terrasse hinaus verlagert. Ich hege die vage Hoffnung, mit
meiner Version so etwas wie einen zusammenfassenden Schlusspunkt
unter die Flut der bereits vorliegenden Bearbeitungen gesetzt zu
haben.
Eigenartig am vierten Satz, einer Art Rondo oder Reigen, ist Debussys
Titeländerung im Druck von „Pavane“ zu „Passepied“
wegen der damit verbundenen Takt- und Temposchwankungen. Passepieds
stehen eigentlich im Dreiertakt, während die Pavane geradtaktig
und viel langsamer ist. Mir haben sich merkwürdige Assoziationen
zu Droschkenfahrten (rotierende Begleitfiguren) aufgedrängt,
bis hin zu Blaskapellen und einer Sibelius-Assoziation (quasi-Hörner-Stelle
kurz vor Schluss). Grundsätzlich wollte ich der an sich schon
streichquartettartigen Klavier(vor)zeichnung – in der Tat
erinnert Debussys Klaviersatz auch im Ambitus zuweilen an einen
Quartettauszug – möglichst treu bleiben, ohne allerdings
auf „impressionistische“ Klangentfaltung zu verzichten.
In Anlehnung an die registratorischen Möglichkeiten großer
französischer Orgeln etwa war ich zusätzlich bemüht,
den Eindruck von Holz- oder Blechbläsern zu erwecken.
Vermutungen
Spekulieren lässt sich über die Symbolik der übergeordneten
Tonartendisposition bzw. der prägnanten Basstöne in Form
zwei sich kreuzender Seufzermotive (F/fis und a/As bzw. d/Des) (Debussy
plus Sonja von Meck?) und des knackenden „An“- bzw.
„Abschaltens“ der Sätze zwei und vier. Zu fragen
wäre außerdem, inwieweit Debussy einem für Mozart
typischen Formmodell folgt, salopp gesagt viersätzig: vom „offiziellen“
über das „tanzbare“ zum „intimen“ und
wieder zurück.
Weniger spekulativ scheinen mir hingegen einige interessante Zusammenhänge
bezüglich des periodischen Auftretens der Verlaine-Auseinandersetzungen
Debussys zeitnah jeweils zu seinen Partnerwechseln, und nach seinem
letzten Partnerwechsel das Erreichen seiner vollen künstlerischen
Form erst dann, als er in die erstrebte gesellschaftliche Sphäre
abgesicherter künstlerisch-intellektueller Bürgerlichkeit
aufsteigt. Interessant ist bestimmt die Frage, was Debussy auf diesem
„Weg nach oben“ jeweils in die nächst höhere
Stufe hat mit hinübernehmen können und inwieweit seine
Verlainerezeptionen (Fêtes galantes I/II etc.) dabei eine
Art Scharnier- oder Drehtürfunktion darstellen. Denkbar wäre,
dass Debussy an Wendepunkten seines Lebens Verlaine vertonte, um
sich – unter anderem anhand der rückwärts gewandten
Texte – Klarheit (nicht nur) über seine kompositorische
Vergangenheit und Zukunft zu verschaffen.
Martin Curschmann lebt als Komponist in Düsseldorf
und betätigt sich auch als Pianist und Dirigent.