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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 15
54. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Musik, Lärm und das europäische Arbeitsrecht
Aus Brüssel naht Rettung. Jedenfalls für alle, für
die Musik
schon immer nichts anderes als Lärm war. Spätestens bis
zum 15. Februar 2006 muss auch in der Bundesrepublik Deutschland
die „Europäische Richtlinie über Mindestvorschriften
zum Schutz vor Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der
Gefährdung durch physikalische Einwirkung (Lärm)“
in nationales Recht umgesetzt sein. Sie gilt für alle Arbeitnehmer,
also alle abhängig beschäftigten Personen, die einer tatsächlichen
oder möglichen Gefährdung ihrer Gesundheit und Sicherheit
durch die Einwirkung von Lärm ausgesetzt sind. Der so genannte
Wochen-Lärm-Expositions-Pegel darf den Grenzwert von 87 Dezibel
(dBA) nicht überschreiten.
Diese Regel gilt ohne jede Ausnahme. Fast alle in deutschen Kultur-
und sonstigen Orchestern beschäftigen Musiker sind Arbeitnehmer,
deren Aufgabe nach herkömmlicher Auffassung darin besteht,
Schallwellen zu erzeugen, die zwar der Erbauung des Publikums dienen,
andererseits aber den europäischen Grenzwert in der Regel überschreiten.
Dass Schallwellen eine physikalische Einwirkung auf den Menschen
haben, wird auch der Musikliebhaber nicht bestreiten, und jetzt
weiß der Leser, warum dieser Beitrag in dieser Zeitschrift
erscheint: Es geht um die Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften
auf die abhängig beschäftigten Musikproduzenten. Natürlich
weiß auch die EU-Kommission, dass das Vereinte Europa, wie
es in Art. 151 EG-Vertrag heißt, „einen Beitrag zur
Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer
nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung
des gemeinsamen kulturellen Erbes“ leistet. Nicht zuletzt
deshalb hat sie wohl in der Nr. 13 der so genannten Vorerwägungen,
die jeder Richtlinie vorangestellt sind und die für die Auslegung
eine besondere Bedeutung haben, formuliert: „Die besonderen
Charakteristika des Musik- und Unterhaltungssektors erfordern einen
praktischen Leitfaden, der eine wirksame Anwendung der Bestimmungen
dieser Richtlinie gewährleistet.“ Die Liebe der EU-Kommission
zur Musik geht aber nicht so weit, die angestellten Orchestermusiker
vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Art. 5 der Richtlinie
nennt im Einzelnen die zu ergreifenden Maßnahmen zur Verringerung
oder Vermeidung der Lärmexposition. Vorgeschlagen werden etwa
alternative Arbeitsverfahren, also quasi das Musizieren ohne Musikinstrumente,
die Auswahl geeigneter Arbeitsmittel, also Musikinstrumente, die
keine Schallwellen erzeugen, die Gestaltung und Auslegung der Arbeitsstätten
und Arbeitsplätze, also jeder Musiker musiziert für sich
allein in seinem Zimmerchen, die technische Lärmminderung,
also die Entwicklung völlig neuartiger Musikinstrumente, die
Luftschallminderung durch Abschirmungen, also die Einkapselung der
Orchestermusiker in Schallschutzkabinen, sowie die arbeitsorganisatorische
Lärmminderung vor, also die Begrenzung der Dauer der Exposition,
mit anderen Worten: die Kürzung der Musikstücke. Aber
immerhin gibt es ein Schlupfloch in Art. 6 der Richtlinie. Denn,
wenn genannte Maßnahmen nicht greifen, müssen für
die Arbeitnehmer „Maßnahmen zum persönlichen Gehörschutz“
eingesetzt werden, also: Ohropax, Kopfhörer und ähnliche
Gerätschaften. So wird es dann wohl sein: Die Musiker musizieren
mit verstopften Ohren. Niemand bestreitet, dass das Berufsrisiko
des Berufsmusikers vor allem darin besteht, Gehörprobleme zu
erleiden, wie übrigens das Berufsrisiko des Balletttänzers
oder Berufssportlers im Bereich des Gelenkverschleißes et
cetera liegt. Arbeitnehmerschutzrecht und die Rechte auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit und der Kunstausübung (Art. 5 GG),
das Recht auf Ausübung und Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen,
wie sie sich über Jahrhunderte entwickelt haben, treten so
in einen Zielkonflikt, der eleganter gelöst werden sollte als
mit Ohrstöpseln. Muss denn wirklich alles bis ins Letzte geregelt
werden? Ist wirklich das Geräusch einer Kreissäge identisch
mit dem der schmetternden Trompete? Ist Musik Lärm, und wenn
ja, gibt es guten und schlechten Lärm, und müssen wir
auch den guten Lärm verbieten? Nicht selten gilt: Weniger ist
mehr.
Hinter der hier dargestellten Problematik steckt aber möglicherweise
noch wesentlich mehr: Die europäische Richtlinie gilt nämlich
nur für Arbeitnehmer, nicht für freiberufliche Musiker.
Liegt es daher nicht nahe, dass der Druck auf den Arbeitnehmerstatus
der Orchestermusiker noch wesentlich verstärkt wird? Insbesondere
deshalb, weil das Thema „Osteuropäische Musiker“
(vgl. dazu nmz
12/04-1/05, S. 9) dadurch eine neue Brisanz bekommt. Diese Musiker
werden eben gerade meistens nicht als sozialversicherungspflichtige
Arbeitnehmer angestellt, sondern als freie Mitarbeiter, selbstständige
Künstler oder in welcher arbeits- und sozialrechtlichen Verkleidung
auch immer. Orchester, die mit solchen Musikern zusammengestellt
werden, fallen dann nicht unter den Anwendungsbereich der Richtlinie,
sie haben dann nicht nur einen „Billiglohn- und Sozialversicherungsvorteil“,
sondern zudem noch das „Privileg“, ohne aufwendige und
teure Lärmschutzmaßnahmen, beziehungsweise ohne künstlerische
Leistungseinbuße durch Kopfhörer das Publikum zu erfreuen.
Ist das gewollt?