[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 45
54. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Mit Sinnlichkeit und echtem Erleben
„Musik zum Anfassen“ – ein experimentelles
Schulprojekt in München
Überall Verfall. Deutschland kommt nicht aus dem tiefen Jammertal
der Pisa-Studien heraus, die Jugend verliert Werte, Ziele und Kultur.
Einerseits. Andererseits wird dagegen von offizieller Seite nicht
viel mehr getan, außer das Lamento immer wieder zu wiederholen.
Vor ein paar Monaten fand in München im Prinzregententheater
ein Symposium zur Bedeutung des Musikunterrichts in den Schulen
statt, mit der Quintessenz, dass der zwar ständig abnehme,
aber eigentlich immer wichtiger werde. Das beste Argument dafür
lieferte ein Personal-Chef einer Münchner Bank: Angesichts
der mangelnden Qualität der Berufsschulen bringe man den Auszubildenden
am besten selber bei, was sie fachlich können müssten.
Nur eines könnte sein Geldinstitut nicht leisten: Denken lehren.
Deshalb sei ihm jeder Bewerber lieb, der eine musische Ausbildung
genossen habe, denn die ließe offene Sinne und ein waches
Hirn erwarten. Der Gedanke an einen möglichen Mehrwert auf
dem Arbeitsmarkt dürfte allerdings kaum eine Rolle gespielt
haben, als sich vor 15 Jahren in München ein paar Musiker zusammen
taten, um das Projekt „Musik zum Anfassen“ zu gründen.
Die Idee der Musiker, die sonst in Neue-Musik-Ensembles wie piano
possibile zugange sind, war, in die Schulen zu gehen und dort Kinder
zu erreichen, die bislang kaum mit Musik in Berührung gekommen
sind. „Musik zum Anfassen“ will Kinder der dritten bis
siebten Jahrgangsstufe wach machen, bei ihnen Lust an Wahrnehmung
wecken. Die Projekte in den Schulen beginnen mit einer Schule des
Hörens, mit ersten Versuchen, Geräusche und Klänge
aufzuschreiben und zu reproduzieren. Doch die Kinder sollen nicht
nur konsumieren, sondern zum aktiven Musikmachen angeregt werden.
Dazu basteln sie aus Alltagsgegenständen Instrumente, entwerfen
ein Fantasieland und die zu diesem passende Musik und studieren
diese schließlich zusammen mit den Musikern ein. Denn „Musik
zum Anfassen“ verlässt einmal im Jahr den Klassenraum
und präsentiert die Arbeit der Kinder im öffentlichen
Konzert.
Musikunterricht spannend
und greifbar. Foto: Irina Pasdarca
Ende Januar wurde dann in der Münchner Muffathalle unter anderem
die Frage beantwortet, wie ein Bauernhof klingt: „Kikeriki.
Halleluja. Amen.“ Kinder haben offensichtlich ein feines Gespür
für den bayerisch-ländlichen Katholizismus. Der Bauernhof
ist auch auf einer Collage zu sehen, die die Schüler der dritten
Klasse der Nymphenburger Grundschule gebastelt haben. Viel toller
aber ist der klangliche Eindruck, bewerkstelligt mit einer Anzahl
pneumatischer Verrichtungen. Die Hauptschüler von der Führichstraße
beschäftigen sich dagegen mit dem, was ihnen vertraut ist:
Breakdance über einem rhythmischen Teppich, von den Profis
angereichert mit Gitarre, Schlagzeug und Klarinette. Die Herstellung
einer Musik, die die meisten ihrer Altersgenossen nur als aseptische
Industrieware konsumieren können, macht den jungen Jugendlichen
sichtlich Spaß.
Zwischen den vier Stücken, die die Kinder erarbeitet haben
und zu denen sie teilweise auch das Publikum zum Mitmachen einladen,
spielen die fünf Musiker Kompositionen von Michael Bauer. Mal
erweisen sich da die Avantgardisten als echte Tschuschen-Kapelle,
mal unterlegen sie pantomimische Filme mit gestisch-melodiösen
Floskeln. Auch ein Vorgang, den „Musik zum Anfassen“
in den Schulen übt: Wie verändert sich visuelle Wahrnehmung
unter dem Einfluss von Musik?
Die Initiative kann nicht den traditionellen Musikunterricht ersetzen.
Aber sie kann ihn erweitern, mit Sinnlichkeit und echtem Erleben
füllen. Mit dem Erleben eines Sturms, der allein mittels Papier-Rascheln
entsteht, mit dem Erleben von Alltagsdingen. Zwar müssen manche
Eltern nun wohl fürchten, dass ihr Nachwuchs die Küche
plündert, um die wohlklingenden Kochutensilien einem anderen
Zweck zuzuführen. Doch das ist freilich eine aktive Unternehmung
der Kreativität.