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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 10
54. Jahrgang | März
Cluster
Terror 2005
Es gibt Gegenden in Deutschland, wo eine neue „braune Kultur“
ganz auf der Oberfläche der Gesellschaft in Erscheinung tritt.
Darüber kann man in letzter Zeit in den „Politiker-Analysen“
genug und viel sich ärgern. Die Arbeitslosigkeit, die mache
das aus uns. So einfach kann man es sich machen und ablenken davon,
was sich „inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen
Menschen“, wie sie Theodor W. Adorno nannte, abspielt.
Ein paar Beispiele: Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat einen
anonymen Denunziationsserver (im Internet) eingerichtet, der Verleumdungen
sozusagen unter Staatsschutz ermöglicht. Mobbing unter Schülern
ist zu einer erfolgreichen Methode der Durchsetzung ebenso geworden
wie das Kuschen von Mitschülern und das häufige Kapitulieren
der Erzieher in diesen Situationen. Knappe Ressourcen im medizinischen
Sektor fordern geradezu nachhaltig unethische Verhaltensweisen nach
dem Motto: „Wenn du das nicht machst, macht es eben ein anderer!“
Die letzte Umsetzung einer EU-Richlinie zur Telekommunikationsüberwachung
und Vorratsspeicherung von Daten macht uns alle zu gläsernen
potenziellen Verbrechern am Staat. Hohe deutsche Regierungspolitiker
aus der 68er- und 70er-Generation setzen damit ihr Türaushängungsgebot
in die Praxis um. Rundfunkräte degradieren sich selbst zu Abnickorgangen
von Programmdirektoren und Intendanten und ignorieren letzte Reste
bürgerschaftlicher Kritik. Und Rundfunkintendanten geben nichts
auf Begriffe wie Kultur- oder Bildungsauftrag, orientieren sich
lieber an Mediaanalysen. Deutsche Banken und andere Großkonzerne
sind endgültig desinteressiert an Menschen. Aufmucker und Kritiker
werden unter den gegenwärtigen Marktbedingungen einfach geschnitten,
dazu bedarf es weder Entlassungen noch Abmahnungen. „Entweder
du unterlässt deine Kritik, oder du bist raus, und niemanden
wird das interessieren“, hört man immer häufiger.
Der alte Staatszensor des 19. Jahrhunderts sitzt längst inmitten
von uns selbst.
Ich muss mal persönlich werden. Als ich ein Kind war, in
den 70er-Jahren, war es mir schlichtweg unbgreiflich, wie sich der
Nationalsozialismus in Deutschland etablieren und durchsetzen konnte.
Ich fragte mich: „Wie konnten sich Menschen das gefallen lassen?“
Heute bangt es mir weniger vor dem Nationalsozialismus, aber vor
einem neuen Terror, denn die Bedingungen für eine neue allgemeine
Selbstzerstörung der Gesellschaft haben sich nicht verändert.
Adorno hat diese Bedingungen in seinem Text „Erziehung nach
Auschwitz“ sehr genau beschrieben: „Unfähigkeit
zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung
dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen
gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was
man so »Mitläufertum« nennt, war primär Geschäftsinteresse:
dass man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und,
um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt.
Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden.“ Wenn nicht
alle einzelnen Phänomene täuschen, dann sind wir auf dem
besten Weg, was Adorno in der Vergangenheit ausmachte: „Die
Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten,
war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung
dafür, dass nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte;
auch darauf machen sie stets erneut die Probe.“