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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 10
54. Jahrgang | März
Cluster
semmelmanns musica viva
In The Neighbourhood
Von meinem diesjährigen Neujahrskonzert wollte ich natürlich
noch berichten. Das ist zwar schon ein paar Tage her, aber ich denke
immer wieder gerne daran, denn es war heuer besonders zauberhaft.
Wie immer am ersten Tag des Jahres ladete äh lud ich bei Sonnenaufgang
meine Nachbarn zu diesem inzwischen über die Stadtgrenzen hinaus
bekannten Event, der diesmal unter dem Motto „Tsunami Perplexity“
stand, ein. Akustisch ist dieses Konzert immer wieder ein Schmankerl.
Unser Haus steht am Hang, die Nordseite ist dabei das Erdgeschoß,
die Südseite mit der Terrasse der zweite Stock. Die Terrasse
endet in einer Brüstung, deren Verwendung als „Ego-Rampe“
jeden Musiker, der mit seinem Instrument zu Fuß unterwegs
ist, mit der Zunge schnalzen lässt. Circa 30 Meter Luftlinie
gegenüber steht das nächste Haus. Schlafzimmerseite. Hab’
ich schon vor langer Zeit mit meinem Olympus 10x50-Fernglas inspiziert.
Ich bekomme hier ein ganz natürliches, kurzes Reverb mit schönen
„Early Reflections“ und kann, was den Raumklang angeht,
auf digitalen Schnickschnack total verzichten. Leider war der Neujahrshimmel
bedeckt. Ein Sonnenaufgang wäre mir und meinen Nachbarn natürlich
lieber gewesen. Aber was soll’s. So musste ich musikalisch
eben vom ersten Griff in die Saiten an Volldampf geben.
Mein Equipment stand schon bereit und hatte Betriebstemperatur.
Dieses Jahr brachte ich erstmals meinen Behringer V-Amp PRO zum
Einsatz. Mit diesem amtlichen Teil kann ich fast alle legendären
Gitarrenverstärkertypen simulieren und meinen Nachbarn somit
einen bunten Mix durch die gesamte Rockgeschichte bieten. Als Gitarren
hatte ich meine U.S.-Strat und natürlich meine geliebte Gibson
SG ausgewählt. Aus gegebenem Anlass begann ich meinen Auftritt
etwas besinnlicher mit Hendrix’ „Voodoo Chile“.
Ach, hätten wir dazu doch den Sonnenaufgang. Sehr schön
kamen dieses Jahr die kreissägigen, kurzen Soli mit dem „Cry
Baby-Wah“. Ein Effekt, der heute kaum noch Verwendung findet.
Die heutigen Effekte heißen „Tittenschlenkern“
und „Arschwackeln“. Aber die kann man nich’ hören.
Obwohl?! Ich zog „Voodoo Chile“ aber nicht so in die
Länge wie der gute Jimi, gingen doch bereits in den ersten
Schlafzimmern die Erschreckungslichter an. Damit sich die Verwirrung
aber schnellstmöglich auflösen konnte und meine Nachbarn
Bescheid wussten, wählte ich am V-Amp das Preset „9A
Metal – Bad Rhythm“ und die brachiale Gitarrenwand Roots
von Sepultura brachte den Putz gegenüber zum Bröckeln.
Während ich wie ein tollwütiger Derwisch die Ego-Rampe
auf- und abhüpfte und dabei immer wieder den „Townshendschen
Propeller“ machte (natürlich mit der SG), erkannte ich
erste Zuschauer, die sich an den offenen Fenstern begeistert in
den Hüften wogen. Bei den Negern in der 20 machte bereits ein
Joint die Runde. Um den allseits hohen Puls aufrecht zu halten,
ging ich direkt über in AC/DCs „Let there be rock“:
Let there be sound,
and there was sound
Let there be light, and there was light
Let there be drums,
and there was drums
Let there be guitar,
and there was guitar
Aaaaaaaaaaaaaah – let there be rock…
Beim Gitarrensolo duckwalkte ich in bester Chuck Berry & Angus
Young-Manier auf der schmalen Brüstung. Da ich dummerweise
über keine Youngsche Schuluniform verfüge, hatte ich mich
in eine von Dwarfs Nietenbuxen reingezwängt. Das sah zwar schulmäßig
aus, quetschte mir aber fast die Eier taub. Die Nachbarn, insbesondere
die weiblichen, waren völlig aus dem Häuschen. Auf dem
Fußweg unterhalb der Terrasse hatte sich bereits ein Grüppchen
hartgesottener Fans zusammengerottet, die ihre Fäuste begeistert
zu mir hoch schüttelten. Der Moshpit tobte. Auf diese Menschen
kannst du dich einfach verlassen. Damit aber auch die Letzten kapierten,
dass dies keine Sonntagsmatinee sein sollte, ging ich über
in das Intro von Ten Years Afters „I’m goin’ home“,
das ich nach all den Jahren immer noch wieselflink beherrschte und
ohne Fehler aus dem Gitarrenhals flutschen ließ: „Ah
goin home – tu see ma babe – huuuu hu huu hu.“
Echtes Woodstock-Feeling kam auf und gegenüber begann eine
ältere Frau nackend am offenen Fenster zu tanzen. Aus den Augenwinkeln
heraus erkannte ich die Männer der Freiwilligen Feuerwehr,
die ihren „Langen Ludwig“ in Position brachten, um mich
– wie jedes Jahr – von der Brüstung zu pusten.
Hat heuer aber zwei Minuten länger gedauert als letztes Mal.
Doch für mich und meine treuen Nachbarn reichte es noch zu
einer fünf Minuten-Version von „Knockin’ on heavens
door. Dedicated to se victims of se deddlie horror-waves“.
Dann hatte die Feuerwehr endlich ihre Leiter draußen und ballerte
mich mit der 25-Millimeter-Wasserkanone von der Rampe. Ich stürzte
zwei Stockwerke tief und verlor die Besinnung.