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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 27
54. Jahrgang | März
Deutscher
Tonkünstler Verband
Als Mensch am Klavier
Professor Günter Philipp im Porträt
Kurz nach dem 75. Geburtstag von Prof. Günter Philipp hat
der Kamprad Verlag das klavierpädagogische Werk „Klavierspiel
und Improvisation“ des Ehrenpräsidenten des Deutschen
Tonkünstlerverbandes Sachsen, in erheblich erweiterter und
überarbeiteter Fassung herausgebracht. Die Figur des Mannes
ruht im Sessel, die Arme auf den gepolsterten Lehnen. Seine Gesichtszüge
sind weich, freundliche Linien umspielen den Mund nicht nur wenn
er lächelt. Die schneeweißen Haare rahmen das Gesicht:
Ein Paar blaue Augen, das mal erstaunt, mal kritisch, mal beobachtend,
mal warmherzig, aber stets aufmerksam und klar auf sein Gegenüber
blickt. Seine Hände sind das Einzige, was in ständiger
Bewegung ist. Immer wieder greifen sie Klavierpassagen auf, die
Philipps Frau und Pianistin Ute Pruggmayer-Philipp im Nebenzimmer
übt.
Der Mensch im Mittelpunkt
Prof. Günter Philipp – Klavierpädagoge, Pianist,
Maler, wissenschaftlicher Publizist. Ein Paar Titel fehlen noch.
„800 Gemälde und Aquarelle, 700 Konzerte, 450 Rundfunkauftritte,
140 Vorträge, zahlreiche Meisterkurse von Stockholm bis Tokio,
35 Fachartikel” heißt es in einer Randbemerkung in Philipps
820 Seiten starkem Lehr- und Bekenntniswerk „Klavierspiel
und Improvisation“, das 2003 erschienen ist.
Seine Augen beobachten zurückhaltend. Darum geht es gar nicht?
Bei Günter Philipp steht immer und aussch1ießlich sein
Gegenüber im Mittelpunkt, sowohl in seiner Pädagogik als
auch in seinem publizistischen Werk. Der Klavierschüler besteht
nicht nur aus spielenden Händen. Seine Ängste, seine Lebensphasen,
seine individuellen Veranlagungen müssen im Unterricht Platz
haben. Eine kranke Seele kann keine kraftvolle Musik machen. Philipp
hat weggeschwiegene Themen in den Mittelpunkt gestellt, hat offen
über Neurosen, Depressionen Spielerkrankungen und mögliche
Behandlungsmethoden geschrieben. „Es ist haarsträubend
wie Lehrer mit ihren Schülern als Personen umgehen!“
Philipps Augen sind bewegt.
Sich selbst bewusst geblieben
Was steckt dahinter? Er ist er selbst geblieben – in den
kulturpolitischen Verhältnissen der DDR. „Andere haben
sich gefragt, ob ich nicht psychisch zugrunde gehe. Ein paar Jahre
kann man das verkraften, aber wenn das über Jahrzehnte geht…“
Günter Philipp spricht nun über sein Leben im SED-Staat.
Als das Kulturministerium nach der politischen Wende erklärt,
dass keiner seiner Kollegen unter solchen Repressionen gelitten
hat wie er, wundert das den Meister nicht. In der Hochschule im
Konzertbereich oder in der Malerei: Die Probleme beginnen schon
während seines Studiums an der Leipziger Musikhochschule in
den 50er-Jahren. „Sie haben versucht, mich rauszuschmeißen,
haben mir im Vorbeigehen auf der Treppe mitgeteilt, dass ich nicht
zum Examen zugelassen werde.“ (Dass es dann anders kam, verdankte
Philipp seinen Wettbewerbserfolgen.) Seine Augen sind nicht hart,
zeigen aber eine Spur von Endgültigkeit.
Ab den 60er-Jahren werden Philipps Konzerte stark eingeschränkt,
da die Künstleragentur der DDR ihn nicht in ihrem Katalog führt.
Der Rundfunk und Dirigenten werden unter Druck gesetzt, nicht mehr
mit dem Pianisten zusammen zu arbeiten. Reisen werden verboten.
Die Berufung als Professor wird jahrzehntelang immer wieder verschoben
bis nach der Wende, die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler
der DDR viermal abgelehnt. In den Siebzigern, als Philipp an der
Hochschule in Dresden lehrt, sind gleich mehrere IM’s der
Stasi auf den Pädagogen angesetzt. „Innerhalb der Klavierabteilung
alleine gab es schon etliche Stasileute, in jeder Studentengruppe
war einer.“
Die Ganzheitlichkeit im Kopf
Philipp muss jede Chance nutzen: Auf der Bühne springt er
oft extrem kurzfristig für erkrankte Kollegen ein. „Ich
wurde in der allergrößten Not und immer als letzter gefragt.“
Und er setzt sich für Neue Musik ein. „Aber die Zeit
rinnt, man wird immer älter und was vorbei ist, lässt
sich nicht mehr nachholen“, sagt er. Daher widmet sich Philipp
vorrangig dem, was nicht unter direkter Kontrolle des Regimes stand:
Dem Wissen. Mit den Grundlagen des Klavierbaus, der Akustik, der
Medizin, Psychologie oder Kybernetik erschafft er die Voraussetzungen
für sein Lehr- und Bekenntnisbuch. „Ich war tagelang
auf der Leipziger Buchmesse und habe aus unerreichbaren Büchern
im Gewühl der Menschen abgeschrieben, was ich konnte.”
Philipps Augen lächeln liebevoll. So wurde aus der Repression
etwas Neues geboren. „Das ist der Ursprung, warum ich letztlich
ein Buch geschrieben und jahrelang daran gesessen habe.“ Auf
Anregung des Ministeriums entstand sein erstes großes Werk.
„Klavier/Klavierspiel/Improvisation“ erschien 1984,
nachdem es zehn Jahre für Gutachterkontrollen im Verlag gelegen
hatte. Dabei wurde das Vorgängerbuch von Philipps Lehrwerk
von 2003 an entscheidenden Stellen deformiert: „Sie wollten
ganze Abschnitte nicht, wie das Improvisationskapitel. Das war ideologisch
ein heißes Eisen.“
Lebendiges, freies Musizieren
Die Improvisation – der schwierigste künstlerische
Weg Günter Philipps. Improvisation ist für ihn die Freiheit
von Ideen, die Ablehnung dogmatischer Vorstellungen, echte Authentizität.
Gegen massiven Widerstand etabliert der Pädagoge 1972 die Improvisation
(ab 1978 als obligatorisches Fach) an der Dresdner Musikhochschule,
macht sie zur Voraussetzung des lebendigen Musizierens. Eine Handverletzung
aus der Nachkriegszeit hatte Philipp gezwungen, eigene Übtechniken
zu entwickeln. „Ich musste eine ökonomische Technik finden,
damit ich nicht stundenlang auf Tasten schlagen muss“, sagt
er. Auch dieses Element passt in die Ganzheitlichkeit seiner pädagogischen
Idee. In seinen eigenen Unterricht kann er heute einfühlsam
auf individuelle Spielproblematiken seiner Schüler eingehen.
Während Philipp über die Dresdner Musikhochschule spricht,
verfinstern sich erstmals seine Augen. Auch nach der Wiedervereinigung
stießen seine Bemühungen die dogmatischen Strukturen
aufzubrechen auf Widerstand. Er wollte als Abteilungsleiter für
Klavier vielen menschlichen Missständen ein Ende bereiten:
Cliquenwirtschaft, verzerrte Prüfungsbewertungen, Diffamierung
von Fachkollegen, Ablehnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Aber auch die Improvisationsausbildung, die seine Frau seit vielen
Jahren international anerkannt (auch als zweites Hauptfach) weiterführt,
wird nach seinem Ausscheiden aus der Hochschule wieder in den Hintergrund
gedrängt.
„Es gibt so unheimlich viele Defizite, die man anbringen
müsste. Aber ich habe keinen Einfluss mehr, kann nur noch zugucken.“
Günter Philipp sitzt ruhig in seinem Armstuhl, es ist spät
geworden. Wer Resignation in diesen Worten festmacht, hat sicher
nicht unrecht. Die Quintessenz ist jedoch eine andere. Auch der,
der Philipps Leben von Weitem betrachtet, kann nun aufrechnen, was
für eine Persönlichkeit hier sitzt, die trotz aller Widerstände
nicht aufhört zu hinterfragen und sich nie verliert. „Das
ist der Ursprung“, sagt Philipp noch einmal.