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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 16-17
54. Jahrgang | März
Forum Musikpädagogik
Musik – erst recht für Erwachsene
Eine empirische Untersuchung zum Musik-Erleben erwachsener Laienmusiker
· Von Hubert Minkenberg
Während meiner mittlerweile mehr als zwanzigjährigen
Tätigkeit als Dozent für Saxophon, Big Band und Chor in
der Erwachsenenarbeit ist mir immer wieder aufgefallen, wie gestandene
Hausfrauen, Regierungsräte, Staatssekretäre und Straßenbahnschaffner,
Oberstudienräte und Sekretärinnen, kurzum Menschen aus
allen Berufsgruppen anfingen zu weinen oder zu strahlen oder beides
gleichzeitig taten, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem
Instrument einen halbwegs vernünftigen Ton entlockt hatten.
Menschen, die in ihrem Berufsleben häufig leitende und verantwortliche
Positionen eingenommen hatten, wurden im Chor oder am Instrument
zu glücklichen, in gewisser Weise einfältigen Kindern.
In kaum einer anderen Lebenssituation habe ich Menschen so entspannt,
kommunikativ, sozial, kreativ und heiter erlebt, wie beim Musizieren
oder danach.
Entscheidend war dabei allerdings zweierlei. Das Musizieren war
immer stärker lust- als leistungsorientiert und der Weg war
wirklich wichtiger als das Ziel. So konnten Erwachsene eine völlig
neue Art des „nur im Jetzt sein“ erfahren.
In Zeiten, in denen die Lebensarbeitszeitverlängerung und
die Verlängerung der Wochenarbeitszeit tagtäglich diskutiert
werden, kann ein kreativer Ausgleich zu zermürbenden Alltagstätigkeiten
gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Allerdings verstehe ich Musik und Musik-Erleben nicht als Regenerationszone,
in der die Menschen für das Berufsleben fit gemacht werden
sollen, sondern als lebenswichtige, eigenvalente Bereiche die dem
Menschen die Möglichkeit lassen, inmitten der unendlichen Vielfalt
der menschlichen Existenz immer auch „homo ludens“ zu
sein. Erstaunt hat mich das Fehlen methodisch-didaktischer Literatur,
die diese hedonistische Musikpädagogik aufgreift. Im eigenen
Bemühen, diese „Didaktik der lustbetonten Musik für
erwachsene Laien“ zu schreiben, bin ich nun bei dieser Untersuchung
stehen geblieben, da ich mir selbst die empirischen Grundlagen für
dieses Unterfangen verschaffen wollte.
Der nächste unerlässliche Schritt wäre nun das Erstellen
einer solchen Didaktik der Musik für Erwachsene.
Ich hoffe mit dieser Untersuchung einen Einblick in das Musik-Erleben
erwachsener Laien verschafft zu haben, das sich, wie die Untersuchung
eindrucksvoll gezeigt hat, auffällig von dem von Kindern, Heranwachsenden
und jungen Erwachsenen unterscheidet.
Warum eine empirische Untersuchung zum Musik-Erleben Erwachsener?
Im Wesentlichen haben mich zwei Phänomene dazu veranlasst,
diese Untersuchung durchzuführen: die sich verschiebende Alterspyramide
in Deutschland und ein subjektorientierter Musikbegriff, wie er
beeinflusst von konstruktivistischen Ideen in der Sozialen Arbeit
leitend ist.
In der vorliegenden Untersuchung wurden etwa 1.100 Personen –
überwiegend Laienmusikerinnen und Laienmusiker im Erwachsenenalter
(über 18 Jahre) mittels eines Internetfragebogens zu 180 Aspekten
ihres Musik-Erlebens befragt. Insgesamt wurden etwa 200.000 Antworten
ausgewertet.
Fragen
Die Fragen bezogen sich auf folgende Bereiche:
• Soziologische Daten
• Vokales Musizieren und Instrumentalspiel
• Musikunterricht
• Übeverhalten
• Musikalische Präferenzen
• Emotionale Bedeutung von Musik
Mein Forschungsinteresse bezog sich auch auf die Beziehung zwischen
bestimmten soziologischen und individuellen Merkmalen und deren
Ausprägung im musikalischen Verhalten.
Grundaussagen
Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen folgende Grundaussagen
zu:
a) Musikhören und Musikausübung haben eine große,
nicht zu unterschätzende positive Bedeutung für die Lebensgestaltung
und das Lebensgefühl von erwachsenen Menschen.
b) Das Musik-Erleben nimmt im Alltagsleben und in der Alltagsgestaltung
erwachsener Menschen eine wichtige Rolle ein.
c) Musikausübung korreliert positiv mit anderen außermusikalischen
Interessengebieten wie Sport, Kultur, Theater und Politik.
d) Musikhören und Musikausübung korrelieren stark mit
einem positiven und aktiven Lebensgefühl.
e) Musikhören und Musikausübung führen zu einer positiven
Selbstwahrnehmung und zu einer positiven Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit.
Zur Durchführung der Untersuchung
Dem Verfasser standen etwa 5.000 E-Mail-Adressen, darunter 3.000
Adressen des auf dem deutschen Markt größten Veranstalters
im Bereich Musikferien „musica viva“ zur Verfügung.
Die Adressaten wurden in einem einheitlichen Anschreiben aufgefordert,
sich an der Untersuchung zu beteiligen.
Durch Anklicken eines Links im Anschreiben gelangten die Versuchspersonen
auf den Fragebogen: Die Grundgesamtheit der Befragten definierte
sich auf Grund der Fragestellung und der Vorgehensweise als die
Personen, die
• über einen Internetanschluss verfügen •
über 18 Jahre alt sind und • Musikinstrumente spielen
und/oder singen. Von den insgesamt etwa 5.000 angeschriebenen Personen
antworteten insgesamt 1.108 im Zeitraum von vier Monaten, davon
über 70 Prozent in den ersten drei Wochen der Befragung. Nach
einer nochmaligen Erinnerung antworteten dann in einem Zeitraum
von weiteren drei Wochen die restlichen 30 Prozent. Dies ist eine
Rücklaufquote von insgesamt 22 Prozent.
Ergebnisse
Bei der Entwicklung der Fragen zu den Stammdaten der Befragten
habe ich mich an den gebräuchlichen Vorgehensweisen der empirischen
Sozialforschung orientiert (vgl. Dieckmann 2002, S. 410 ff.).
Die Antwortmöglichkeiten bei der Frage nach den Motiven für
das Erlernen eines Instrumentes wurden auf Grund der Ergebnisse
eines Prätests entwickelt. Bei den Prätests war diese
Frage noch offen gestellt worden. Die am häufigsten vorkommenden
Antworten wurden dann als Antwortmöglichkeit ausgesucht.
Die Geschlechtsverteilung mit 62 Prozent Frauen zu 38 Prozent
Männern weicht zu Gunsten der weiblichen Versuchsteilnehmer
vom Bundesdurchschnitt ab.
Die Altersstruktur entspricht der Normalverteilung. Der Altersdurchschnitt
aller Versuchsteilnehmer war 42,4 Jahre, hierbei waren die Abweichungen
zwischen Männern und Frauen minimal.
Die Ergebnisse der vorgestellten Untersuchung weisen auf eine Fülle
von Besonderheiten im Musik-Erleben Erwachsener hin.
Zunächst sei noch einmal auf die Schwierigkeiten der Durchführung
einer Internetbefragung und die damit verbundenen Probleme der Repräsentativität
hingewiesen. Selbst bei einer von einem professionellen Marktforschungsunternehmen
durchgeführten Stichprobe mit N = 1.028 würde die zu untersuchende
Personengruppe kaum in Erscheinung treten, da ihr Anteil an der
Bevölkerung vermutlich um fünf Prozent liegt. Insofern
war die Möglichkeit des Zugriffs auf die Adressen eines großen
Veranstalters im Bereich Musikpädagogik mit Erwachsenen ein
Glücksfall.
Nicht zu übersehen war der hohe Anteil der Personen mit einem
höheren Bildungsabschluss. Unter 1.098 Untersuchungsteilnehmern
war ein einziger ohne Abschluss und lediglich 20 Personen mit Hauptschulabschluss.
Auch die Bandbreite und Varianz der Interessen der befragten Personen
war außerordentlich groß. So kann abschließend
gesagt werden, dass das Interesse für Musik, sei es lediglich
als Hörer oder auch als Spieler oft einhergeht mit Interessen
für andere Bereiche. Besonders häufig wurden hier genannt
Literatur, Kino, Sport und Reisen. Diese Antworten sind natürlich
angesichts des Bildungsgrades der Befragten nicht verwunderlich.
Erstaunlich war jedoch, dass das Interesse für andere künstlerische
Ausdrucksmöglichkeiten wie Theater und Bildende Kunst vergleichsweise
gering war.
Die Instrumentenwahl der Befragten zeigte eine deutliche Bevorzugung
des Instrumentes Stimme gefolgt von den Blech- und Holzblasinstrumenten.
Ebenso verhält es sich mit der Mitgliedschaft in Ensembles.
Hier wird das Chorsingen eindeutig vor Band und Orchester bevorzugt.
Die Tatsache, dass die Liebe zur Musik, eine sinnvolle Freizeitgestaltung
und Entspannung als Hauptmotive für die Instrumentenwahl genannt
werden, zeigt überaus deutlich den Unterschied zu Berufsmusikern.
Hier steht wirklich das lustbetonte Musik-Erleben im Vordergrund.
Auch die häufige Erwähnung der Erfüllung eines Jugendtraums
als ausschlaggebend für die Wahl eines konkreten Instrumentes
deutet in diese Richtung. Erstaunlicherweise spielten und spielen
die Eltern immer noch eine große Rolle bei der Entscheidungsfindung
für ein konkretes Instrument. Überaus nachdenklich sollte
stimmen, dass 80 Prozent der Befragten bereits ein Instrument gespielt
hatten und dieses wieder aufgaben. Dies ist ein erschreckendes Ergebnis
und sollte unbedingt zum Nachdenken und zur Verbesserung des Instrumentalunterrichts
führen, vor allem angesichts der Begründung des Abbruchs.
Hier nennen ungefähr 40 Prozent der Befragten solche Motive
wie „schlechter Lehrer“ oder „unattraktives Unterrichtsangebot.“
Ebenso nachdenklich sollte die Kritik am bestehenden Unterricht
machen. Die Hauptkritik bezog sich auf fehlende Improvisation. Dies
wurde von 60 Prozent der Befragten bemängelt. Rhythmusarbeit
und Hörerziehung vermisste knapp die Hälfte der Befragten.
Schließlich wünschten jeweils ein Drittel eine stärkere
Berücksichtigung der Aspekte Blattspiel, Musiktheorie, Körperarbeit
und Freies Spiel.
Musikalische Präferenzen der Probanden
In engem Zusammenhang zur Bildungsschicht müssen die Antworten
zu den musikalischen Präferenzen gedeutet werden, da hier –
in starker Abweichung vom deutschen Durchschnittsgeschmack –
die „klassische“ Musik und der Jazz deutlich favorisiert
wurden.
Als ebenso untypisch muss die deutliche Ablehnung volkstümlicher
Musik gesehen werden.
Die bezüglich des Musikhörens geäußerten Präferenzen
bestätigen sich im Wesentlichen beim Musizieren.
Freude, Liebe, Entspannung, Leidenschaft und Sehnsucht waren die
zentralen Begriffe, die von den Befragten genannt wurden, wenn es
um die emotionalen Qualitäten ihres Musikerlebens ging. Dies
traf sowohl auf das Musikhören als auch auf das Instrumentalspiel
und Singen gleichermaßen zu.
Eine überwältigende Anzahl der Befragten, nämlich
ungefähr 80 Prozent gab an, dass das Musikhören und das
Instrumentalspiel beziehungsweise das Singen für ihr Leben
wichtig bis lebenswichtig sei.
Dies zeigte sich auch in der täglichen bewussten Beschäftigung
mit Musik von durchschnittlich 2,5 Stunden pro Tag. Gerade in Zeiten
des kollektiven Lamentos sei auf das überaus positive Lebensgefühl
der Befragten hingewiesen. Musik kann hier durchaus als wichtige
Lebensmotivation gesehen werden.
Die Ergebnisse der Korrelationsberechnungen deuten darauf hin,
dass die oben beschriebenen Merkmale besonders deutlich bei Sängerinnen
und Sängern auftreten.
Am Ende wurde auch nach Stücken gefragt, die für absolutes
Glück beziehungsweise große Trauer stehen. Die Nennung
der gleichen Titel sowohl in der Glücks- wie auch in der Trauerkategorie
bestätigt meine eigene Grundauffassung von Musik als äußerst
subjektiv geprägtem Erlebnisinhalt.
Ausblick
Die nun erhobenen Daten sollten als Grundlage für die Entwicklung
eines ausgereiften musikalischen Konzeptes für Erwachsene dienen,
die in höherem Alter ein Instrument oder das Singen (wieder)erlernen
wollen. Dies bedeutet für viele Menschen eine erhebliche Verbesserung
ihrer Lebensqualität.
Die Schwerpunkte eines solchen Konzeptes seien hier noch einmal
angeführt:
Bewegung und Rhythmus als Ausgangspunkt des musikalischen Arbeitens
Aufgabe der Vorherrschaft notierter Musik zu Gunsten oral tradierter
Musikstile
Improvisation und spontanes Musizieren als Erweiterung des
musikalischen Erfahrungsraums
ganzheitliche Verknüpfung unterschiedlicher Lehr- Lernmethoden
im Prozess der Aneignung
Betonung der leistungsfreien Aspekte zu Gunsten der sozialen,
kreativen und kommunikativen Aspekte des Musikerlebens.