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Ausgabe 2005/03
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nmz 2005/03 | Seite 4-5
54. Jahrgang | März
Magazin

Das neue Musiktheater erkundet eine nächtliche Großstadt

Zehn Opernminiaturen beim Stuttgarter Éclat-Festival und noch ein Dutzend Uraufführungen dazu

Die Atmosphäre wirkte gespannt, die Gespräche klangen oft erregt. Was wird aus dem „Éclat“-Festival, Stuttgarts traditionsreichen „Tagen der Neuen Musik“, die besonders in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Treffpunkte für Neue und neueste Musik geworden sind?

Seit die Ministerpräsidenten der Länder beschlossen haben, den ARD-Anstalten nicht die gewünschte Gebührenanhebung in voller Höhe zu genehmigen, spielen die Sparteufel in den Funketagen verrückt. Wilde Drohungen wider die Musik und ihre hauseigenen Protagonisten stößt vor allen der Intendant des Südwestrundfunks, Peter Voß, aus. Seine Definition des sogar bundesverfassungsgerichtlich fixierten öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags bestreitet die Verpflichtung des Rundfunks, eigene Orchester und Chöre zu unterhalten, Festivals zu veranstalten oder Kompositionsaufträge zu erteilen und zu finanzieren. Mit diesen Argumenten wird sich der zuständige Rundfunkrat demnächst beschäftigen. Die allgemeine Protestwelle hat ja inzwischen bewirkt, dass die Münchner Dependence der ARD offensichtlich die verkündete Auflösung des Rundfunkorchesters durch eine modifizierte neue Struktur für das Orchester ersetzen möchte. So könnte man auch für den SWR auf die Rückkehr der Vernunft hoffen, zumal der Widerstand aus den betroffenen Ensembles, aber auch in der Öffentlichkeit ständig wächst. Für das renommierte SWR- Vokalensemble hat sich sogar ein eigener Freundes- und Fördererkreis etabliert, der sehr schnell auf fast 200 Mitglieder wuchs. Beim Festival lud er in einer Konzertpause zu einer rasch improvisierten öffentlichen Versammlung ein, bei der die Komponisten Wolfgang Rihm und Heinz Holliger sowie der als unermüdlicher Kulturhüter allgegenwärtige frühere Bundesminister Gerhart Baum mit unmissverständlichen Worten die Pflicht des Rundfunks zur aktiven Kulturarbeit gerade im musikalischen Bereich einmal mehr untermauerten.

Drei von zehn Miniaturen (v.l.): „Gebrauchsanweisung zum Singen“ von Stefan Streich, „Blackout“ von Hans-Peter Jahn und „Branng!“ von Michael Beil. Alle Fotos: Charlotte Oswald

Drei von zehn Miniaturen (v.l.): „Gebrauchsanweisung zum Singen“ von Stefan Streich, „Blackout“ von Hans-Peter Jahn und „Branng!“ von Michael Beil. Alle Fotos: Charlotte Oswald

Das „Éclat“-Festival, das künftig ohne die vom SWR erteilten Kompositionsaufträge und die Mitwirkung der rundfunkeigenen „Klangkörper“ – das Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester, das SWR-Vokalensemble, die Big Band – auskommen müsste, falls nicht noch eine Umkehr des Denkens einsetzt, sieht gleichwohl mit Optimismus in die Zukunft: Das Festival wird auf jeden Fall weitergeführt, für die nächsten zwei, drei Jahre gibt es bestellte Uraufführungen, auch die Mitwirkung von Sinfonieorchester und Vokalensemble scheint nach den Bekundungen der verantwortlichen Leiter des Festivals nicht gänzlich ausgeschlossen. Die besten Argumente für ein Festival der Neuen Musik liefert, wie immer, das Festival selbst: mit hochqualifizierten Aufführungen neuer Werke, intelligenten Programmen, vielfältigen ästhetischen Perspektiven, die das gegenwärtige künstlerische Schaffen in mannigfachen Facetten spiegeln. Das „Éclat“-Festival, veranstaltet vom Verein „Musik der Jahrhunderte“ und künstlerisch geleitet von Hans-Peter Jahn, dem für Neue Musik zuständigen Redakteur beim Südwestrundfunk, dehnt seine Erkundungsreisen über den tradierten musikalischen Werkbegriff hinaus immer stärker auch auf andere Genres aus. Theater, Video, Film, Crossover, Musiktheater für Kinder – an sechs Tagen boten sich aktuelle künstlerische Ausdrucksmittel in bemerkenswerter Fülle dar, wobei ein Neue-Musik-Festival immer auch Laboratoriumscharakter besitzt. Das ehrgeizigste Projekt im diesjährigen „Éclat“-Programm waren zehn Musik-Theater-Miniaturen unter dem gemeinsamen Übertitel „Großstadt nachts“.

Wie in der Formel 1 gab es Vorgaben: Komponisten, Regisseure, Tänzer oder Schriftsteller erhielten den Auftrag, jeweils für drei Personen eine Situation in einer nächtlichen Großstadt zu entwickeln. Dauer pro Miniatur: exakt zehn Minuten.

Gespielt wurde in drei nebeneinandergestellten Kleinstbühnen-Containern mit gleitenden Übergängen von Stück zu Stück. Reale und albtraumartige Szenen ziehen vorüber. Die Komponistin Carola Bauckholt und Cornelie Müller zeigen drei Frauen in einem Taxi, nachts durch die vorüberziehenden Straßenfluchten fahrend, die drei Frauenstimmen bilden das Terzett im Taxi, der Taxifunk mischt sich dazwischen, von draußen dringen nächtliche Geräusche via Zuspielband in die „Bild-Klang-Geräusch“-Komposition. Ähnlich suggestiv auch die „Gebrauchsanweisung zum Singen“ mit Texten aus Julio Cortázars „Manual de Instrucciones“: realistische Details und Figuren geraten in die Sphäre des Absurden und Fantastischen. Stefan Streich schrieb dazu eine suggestive Musik. In „Branng!“ demonstrieren ein Countertenor (brillant Daniel Gloger), ein Sprecher und eine Schauspielerin das Thema „Zerstörung“: magische Schatten, magisches Blaulicht, dazu die Rachearie der Königin der Nacht als tönendes Symbol einer gestörten Weltordnung. Michael Beil komponierte dazu die Musik. In Hans-Peter Jahns „Black-out“-Szene, in einer nächtlichen U-Bahn-Ebene spielend, trifft ein kleines Mädchen die Mutter wieder, die als Schaufensterpuppe aus dem gläsernen Käfig tritt. Der Vater aber drängt nach Hause; auch hier das Thema Zerstörung – der Familienbande. Robert HP Platz schrieb eine klangsensibel ausgehörte Musik zu „Leere Mitte Lilith“: Aus Klängen wachsen Zeichen und Bedeutungen, sie verändern die „Nachtgedanken“ des Autors Alban Nikolai Herbst. Insgesamt stellt „Großstadt nachts“ einen bemerkenswerten Versuch dar, die Ausdrucksmittel von Musik, Klang, Geräusch mit textlichen, narrativen und visuellen Elementen zu einem neuen Musik-Theater zu verschmelzen. Thema verschmelzen: Wie lässt sich das symphonische Orchester mit einer Big Band zusammenkoppeln? Rolf Liebermann hat es einmal leidlich hübsch versucht, die Berliner Philharmoniker wirkten ziemlich komisch im Duettieren mit den „Scorpions“. In Stuttgart jetzt Erkki-Sven Tüür mit einer „Sinfonie Nr. 5“ für Big Band, E-Gitarre und Orchester sowie Bernd Konrad mit „Stepping Stone – I have a dream“ für großes Orchester und Big Band. Zwei verheißungsvolle Ansätze: Sowohl Tüür als auch Konrad inszenieren gleichsam Klanggesten, breiten orchestrale Klangflächen aus, in die das „fremde“ Jazz-Rock-Idiom erstaunlich geschmeidig einzudringen vermag, im Sinne einer klanglich-musikalischen Umarmung. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, die SWR Big Band und der Dirigent Olari Elts leisteten Phänomenales. Das Konzert geriet zum Höhepunkt des Festivals, das mit zwanzig Uraufführungen einmal mehr seine Bedeutung für die Weiterentwicklung der Musik dokumentierte.

Einige dieser Uraufführungen sollen hier hervorgehoben werden, es gehört leider zu den unbefriedigenden Bedingungen einer publizistischen Festivalberichterstattung, dass das einzelne Werk aus Platzgründen nur mehr kursorisch gestreift denn ausführlich dargestellt werden kann. Das wäre dann von Fall zu Fall bei Wiederaufführungen, zum Beispiel bei Porträtkonzerten, nachzuholen. Was also müsste man erwähnen, wobei das Éclat-Festival sich nicht dem bereits bekannten Werk verweigert, wenn dieses im Zusammenhang des Festival-Programms einen Sinn ergibt. So überzeugte wieder Jörg Widmanns „Hallstudie“ für Klavier, von Irene Russo mit subtilem Klangsinn ausgeforscht (siehe unser Titelbild). Der Pianist Stefan Litwin stellte nicht nur seine reflektionsreiche Komposition „Thoreau’s Nightmare“ vor, sondern widmete sich als Pianist zugleich Michael Gielens „Klavierstück in sieben Sätzen“, eine äußerst komplexe Materialerforschung, von großer Innenspannung erfüllt.
Sven-Ingo Koch, Preisträger des Stuttgarter Komponistenpreises 2003, übersetzt in seiner Orchesterkomposition „Und. Weit. Flog (Räume – Bewegungen)“ die Strukturen und Impressionen einer Landschaft (Kalifornien) entsprechend in eine musikalische Struktur, die vor allem durch ihre Verräumlichung, ein Wechselspiel von Nähe und Ferne überzeugt. Naturprozesse bildet auch Michael Reudenbach in seinem Instrumentalstück „Sonnenbrenner/Abdruck“ ab: Wie der Basaltstein unter Sonneneinstrahlung sich auflöst und zerfällt, so verändern sich die musikalischen Prozesse: Auch die Musik zerfällt: eine komponierte Verwitterung von ästhetischem Reiz. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Johannes Kalitzke exekutierte die beiden Partituren souverän und spannungsvoll.

Heinz Holliger protestierte mit dem Kollegen Wolfgang Rihm und dem früheren Bundesminister Gerhart Baum (warum gibt es nicht mehr Politiker seiner Art, die sich verantwortungsbewusst und zugleich künstlerisch engagiert für die Belange der Kultur in Deutschland immer wieder einsetzen?) nicht nur gegen die drohende Auflösung oder zumindest Verkleinerung des SWR-Vokalensembles durch eine gleichsam bewusstlos agierende Sparpolitik der SWR-Intendanz (siedhe unser Foto von einer improvisierten Diskussion beim Festival), sondern schrieb dem Vokalensemble mit „Shir shavur“ auf Gedichte von David Rokeah ein A-capella-Stück von höchs-ter Eindringlichkeit und zugleich höchstem interpretatorischen Anspruch auf den „Stimm-Leib“, was vom Ensemble mit gewohnter Perfektion umgesetzt wurde. Das Vokalensemble glänzte danach noch mit Ivan Fedeles „Odos“ für Oboe (mit gewohnter Präsenz von Holliger gespielt).

Mit Holliger als Dirigenten errang das SWR-Vokalensemble kurz nach dem Stuttgarter Éclat-Festival in Paris einen sensationellen Erfolg mit einem Konzert in der Cité de la Musique. Französische Musikfachleute schüttelten nur den Kopf, als sie erfuhren, dass es dieses Ensemble womöglich bald nicht mehr geben wird. Es scheint an der Zeit, dass vielleicht einmal einige vernünftige Leute im politischen Umfeld des Südwestrundfunks den Intendanten Voß zu einem Essen einladen und ihm sagen, was sie über derlei Kulturabbau denken. Es wird wahrscheinlich nichts nützen, aber vielleicht doch?

Gerhard Rohde

 

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