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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 9
54. Jahrgang | März
Magazin
Die befleckte Empfängnis und die chaotischen Wucherungen
Der Komponist Dieter Schnebel feiert am 14. März seinen
75. Geburtstag
Alles Bedeutende bewegt sich am Rande; dort wo man es meist nicht
vermutet. Gerade einmal knapp fünf Jahre, genau zwölf
Tage, ist Dieter Schnebel jünger als Pierre Boulez. Dennoch
scheint eine Generation dazwischen zu liegen. Boulez ist der vielleicht
wesentlichste Protagonist eines strukturell klanglichen Denkens,
das er mitunter in kristalline Reinheit trieb. Bei Schnebel ging
es schon immer, sieht man einmal von ein paar seriellen Frühversuchen
ab, unrein, kontaminiert zu.
Jubilar Dieter Schnebel.
Foto: Charlotte Oswald
Von unbefleckter Empfängnis hielt der evangelische Theologe
noch nie etwas, viel mehr schon vom Chaos unverständlichen
– und auf anderer Ebene dann doch wieder verständlichen
– Sprachengewirrs, wie es im frühen Meisterwerk „Glossolalie“
des damals 30-jährigen Komponisten so bestechend mit Witz und
existenzieller Tiefe in Szene gesetzt wurde. Seither wuchs sein
Gesamtwerk zu unübersehbarer Fülle, zu einem Irrgarten
der verschiedenen Ansätze und Perspektiven, als wolle er durch
seine Lebensarbeit das Durcheinander der „Glossolalie“
ins Unendliche prolongieren. Das hat etwas Unersättliches,
denn einer chaotischen Struktur ist immer noch eine fraktale Brechung
einzuschreiben. 1992 hatte Schnebel in Donaueschingen seine zweieinhalbstündige
„Sinfonie X“ vorgestellt, die sich zur Aufgabe gemacht
hatte, die Welt des Klingens als Total zu erfassen, zu systematisieren
und in Form zu gießen (der Mahler’schen Idee gehorchend,
dass das Schreiben einer Sinfonie gleichbedeutend sei mit dem Bauen
einer Welt). Und es muss Schnebel keine Ruhe gelassen haben, dass
hier für seine Begriffe doch noch etwas fehlte oder unterbelichtet
blieb, ganz so wie Gott nach fünftägiger Erschaffung der
Welt feststellte, dass noch der Mensch fehlte. So arbeitete Schnebel
weiter und dehnte den Umfang seiner „Sinfonie X“ noch
weiter, so dass man ironisch anmerken könnte, es sei wohl inzwischen
eine „Sinfonie XXL“ geworden.
Zu diesen Wucherungen gesellte sich schon sehr bald ein zweites
Moment bei Dieter Schnebel: das Verlangen nach Ordnung. Es scheint
selbstverständlich, denn schon die Chaostheorien (denen Schnebel
schon aus theologischer Neugier Interesse entgegengebracht haben
muss) weisen darauf hin, dass es in Systemen, die die Fülle
aller Bewegungen auffangen, die rätselhafte Tendenz gibt, Ordnungsstrukturen
wachsen zu lassen. Schnebel muss sich dabei angesichts seines ganzen
eigenen Werkes, das ebenso wie die Sinfonie (sie macht es nur aus
sinfonischer Warte) die Totalität des Klingens einzufangen
sucht, vorkommen wie zum Beispiel Linné angesichts des Tier-
und Pflanzenreiches: Über Ober- und Untergruppen bahnt sich
der Weg bis zur einzelnen Art, hier bis zum einzelnen Werk. So systematisiert
Schnebel und kommt zu den Gattungen: Versuche, Für Stimmen,
Projekte, Abfälle (I und II), Modelle, Räume, Radiophonien,
Produktionsprozesse, Schulmusik, Re-Visionen, dann Tradition mit
den Untergruppen „Alte Musik“, Kammermusik, Orchester,
Kammertheater und drei weiteren (Nr. V bis VII), worunter sich (unter
VI) auch die „Sinfonie X“ findet. Es geht weiter mit
Psychologia, Experimentelles Musiktheater, Speromenti und schließlich
Pezzi Sacri. Das räumt auf – oder es tut nur so, weil
wir Menschen im Anblick der Unendlichkeit einfach erst einmal ein
paar Gruppen bilden, um uns zurechtzufinden. Das machen wir auch
manchmal, ohne den Dingen wirklich gerecht zu werden, etwa wenn
wir mit dem Blick zum Nachthimmel Sternbilder formieren, deren einzelne
Sterne kaum etwas miteinander zu tun haben. Das ist ein ptolemäisches,
ein auf die Anschauungsformen des Menschen zentriertes Prinzip.
Und Schnebel mag diese Sicht der Dinge, die vom staunenden Menschen
ausgeht und die Ordnung um seiner Willen etabliert, durchaus recht
sein: zugebend, dass das Erfassen der Totalität (was ist das
eigentlich?) ohnehin auf wirklicher Basis (auch hier: was ist das?)
nicht möglich ist. So aber werden die einzelnen Arbeiten Schnebels
zu einem gigantischen Über-Werk, zu einem Kosmos der Klangerscheinungen,
die mit kindlichem Bemühen (der biblische Auftrag „Seid
wie die Kinder“ ist für Schnebel verbindlich) in ein
System gebracht werden.
Wo bleibt die Musik, das Eigen-Erschöpfte? Auch hier ging
Dieter Schnebel einen Weg, der kaum Gleiches kennt. Freilich gibt
es John Cage als Vorbild, dessen Prinzip des unbedingten Loslassens,
das die Dinge, die Klänge belässt, wie sie sind. Schnebel
ist einer der wenigen Komponisten, die, um eine Anmerkung Heinz-Klaus
Metzgers zu bemühen, nach Cage nicht komponierten, als sei
nichts geschehen. Das Cage’sche Purgatorium ist ihm Auftrag.
Aber er hat nicht die Ruhe des vollkommenen Loslassens, er will
erfassen, er will den Menschen als Aktivum dagegen stellen. Die
Klänge freilich sind auch bei ihm, wie bei Cage, jeglicher
ästhetischen Wertung enthoben: oder doch nicht ganz, denn sie
tragen alle schon den Makel menschlicher Be- und Vernutzung –
und damit auch das Bemühen menschlicher Sinngebung. Und hier
treten Theodor W. Adorno und Ernst Bloch auf den Plan, denen beiden
der Ansatz von Cage fremd, ja fragwürdig blieb. Utopie, dieser
zentrale Begriff im Denken von Bloch (und auch, wenngleich nicht
so konkret ausformuliert, bei Adorno), ist nur denkbar, wenn wir
uns als Menschen selbst orten, wenn wir also bestimmen, wo wir sind,
wie wir sind, was wir sind und wenn wir andenken, was wir wollen,
was möglich ist. Das Mögliche freilich wohnt im Bestehenden,
äußert sich als Utopie. Dieses Bestehende aber, Basis
für Ausblick wie für endgültigen Zusammenbruch, wird
von Schnebel ausgelotet.
Und somit gibt es auch im Grunde keine eigene Musik Schnebels
– auch hier ist er radikal wie kaum ein anderer Komponist
der Gegenwart. Seine Klänge sind uneigentlich, entlehnt oder
über Ecken gebogen. Sie entstehen durch artifizielle Verbiegungen
von körpereigenen oder -fremden Organen, sie werden der Musikgeschichte
entnommen, sie entstehen aus Prozess-Anordnungen. Und auch die gewissermaßen
frei erfundenen musikalischen Strukturen wissen unmittelbar von
ihrer Unfreiheit. Ein Walzer, ein Marsch, eine Fanfare, ein Cluster
– alle tragen das Gepäck ihrer Geschichte und dazu in
der Tragetasche das ihrer geschichtlichen Umwertungen mit sich.
Der Satz „Valse“ in der Sinfonie denkt vom ursprünglichen
volksmusikalischen Vergnügen eines Ländlers oder Drehers
über den Wiener Kongress („Der Kongress tanzt“,
war damals Motto), über die damals vollzogene Spaltung von
„E“- und „U“-Musik, Leichtigkeit des Seins
(unerträgliche?) bis zu Schwindel, Taumel des Drehens im Strudel
und Untergang der Titanic (wie man Ravels „La Valse“
einmal beschrieb) oder gar des Abendlands. Komplexe Gefüge
dieser Art leistet Schnebels Musik immer wieder: Freilich nicht,
indem sie allein Gehör fordert, sondern indem sie die Aufmerksamkeit
auf den ganzen historischen Hall-Raum hinter den Klängen erheischt.
Die Musik selbst ist uneigentlich, sie verweist auf die Bedingungen
ihrer Produktion (etwa der Komplex der „Maulwerke“),
auf musikphilosophische Reflexionen über Hören und Sehen
(z.B. Ki-no oder MO-NO), auf Psychoanalytisches, auf Konditionen
des Hörens oder eben auf den ganzen Komplex der geschichtlichen
Befrachtung alles Erklingenden. Die Musik befindet sich stets im
Prozess der Selbst-Betastung. Jedes Geräusch, jeder Klang,
jede musikalische Wendung sind für Schnebel ganze Zeichensysteme,
die in unterschiedliche, ja diametrale Richtungen weisen und sich
zugleich als Total dem vernehmenden Ohr erschließen.
Das gelingt freilich nur einem Ohr oder besser einem Geist, dem
dialektische Kritik zum Werkzeug des Verstehens gehört (spätestens
seit Mahler wird solches Hören eingefordert). Denn die Brechungen,
die in Schnebels musikalischem Material inhärent vorhanden
sind, verlangen der hörenden Entschlüsselung. Ohne diese
bliebe die Musik (also wenn sie pur aufgefasst wird) oft im Lapidaren,
Verspielten, Zitatlüsternen hängen. Auch dann freilich
bliebe noch ein Rest an Staunen über Fantasie, die Wendigkeit,
die frechen Volten der Musik. Aber Schnebel ganz zu erfassen heißt,
sich auf gebrochene Vielschichtigkeit unserer Wahrnehmung einzulassen.
Eine Wahrnehmung, die den Raum zwischen einem Windhauch oder einem
Stuhlrücken und Gott (oder nennen wir es Sinn des Daseins)
auszufüllen bereit ist.