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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 42
54. Jahrgang | März
Bücher
Von Zusammenhängen und ihrem Verschwinden
Drei Publikationen zur Geschichte des Musiktheaters vom 17. bis
ins 21. Jahrhundert
Das Experiment als Ausgangs- und Endpunkt einer Gattung: Könnte
so ein die Gattungsgeschichte der Oper umreißender Essay in,
sagen wir, 100 Jahren überschrieben sein? Wer weiß, aber
wahrscheinlich erweisen sich in der Rückschau die Auflösungserscheinungen,
die Katja Schneider und Frieder Reininghaus am Schluss ihres Sammelbandes
als „Furie des Verschwindens“ apostrophieren, lediglich
als eine Tendenz unter anderen innerhalb einer erstaunlich vitalen
Gattung.
Der Gegenstand dieses in der Reihe „Handbuch der Musik im
20. Jahrhundert“ erschienenen Bandes, den die Herausgeber
mit dem Begriff „Experimentelles Musik- und Tanztheater“
zu umreißen versuchen, entzieht sich wahrscheinlich von vornherein
dem Handbuch-typischen rubrizierenden Zugriff. Dennoch muss der
Versuch, das Verschwinden eines roten Fadens, eines im engeren Sinne
gattungsgeschichtlichen Zusammenhangs innerhalb dieses ohnehin nicht
klar abgrenzbaren Repertoires von Strawinsky bis Klaus Lang durch
eine extreme Aufsplitterung der Materie gerecht zu werden, wohl
als gescheitert angesehen werden. Zu unterschiedlich in der Qualität
und Aussagekraft sind die unzähligen Einzelbetrachtungen der
41 (!) Autorinnen und Autoren zu Werken, Komponisten oder Tänzern,
zu selten wird die Möglichkeit genutzt, durch Querverweise
auf bestehende oder wenigstens diskussionswürdige Verbindungen
zwischen den verschiedenen Strömungen, auf Tendenzen oder längerfristige
ästhetische Entwicklungen hinzuweisen. Meist ist dies jedoch
ein Scheitern auf hohem Niveau, sodass der Band wenn schon nicht
als Orientierung für Neugierige, so doch als Anregung für
Eingeweihte seine Leserschaft finden dürfte.
Ein völlig anderes Bild ergibt sich naturgemäß
für den ebenfalls bei Laaber erschienenen Band zum 17. Jahrhundert
in der Handbuchreihe zur Operngeschichte. Silke Leopold hat den
Schöpfungsmythos, der die Gattung gerne umgibt, gründlich
auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt und bekommt
die Materie auch im weiteren Verlauf durch eine plausible thematische
Bündelung bestens in den Griff. Nicht nur die italienischen
Zentren der Opernpflege, auch einzelne Stoffgruppen wie die aus
Mythologie oder religiösen Themen gespeisten Werke treten in
den Fokus der Betrachtung, ehe auf die Entwicklungen in Frankreich,
England und im deutschsprachigen Raum eingegangen wird. Immer wieder
konkretisiert die Autorin dabei ihre Thesen an exemplarischen Analysen
von Operntexten und deren musikalischer Umsetzung. Lebendige Musikgeschichtsschreibung
an einem faszinierenden Gegenstand. Hochinteressant wäre freilich
noch ein Kapitel zur Aufführungspraxis dieses Repertoires gewesen,
das durch Originalklang-Spezialisten gerade in den letzten Jahren
eine breitere Zuhörerschicht erreicht hat.
Wer den Blick gerne auch nach Spanien gerichtet gesehen hätte,
wird in einer anderen Publikation fündig, die allerdings dort
beginnt, wo Silke Leopolds Darstellung endet. Rainer Kleinertz erhellt
mit großer Anschaulichkeit, wie das spanische Musiktheater
im 18. Jahrhundert einen eigenständigen Weg zwischen den nationalen
Traditionen des Sprechtheaters und der Zarzuela auf der einen und
den italienischen Gattungsausprägungen auf der anderen Seite
gefunden hat. Gleichzeitig zeigt er eindrucksvoll die politischen
Funktionen auf, die der Gattung in den wechselvollen dynastischen
Konstellationen zukamen. Ein bisher weißer Fleck auf der Landkarte
der Musikhistorie – hier hat er Farbe und Kontur bekommen.
Juan Martin Koch
Experimentelles Musik- und Tanztheater, hg. von Frieder Reininghaus
und Katja Schneider, Laaber Verlag 2004, 391 Seiten,
€ 98,-, ISBN 3-89007-427-8
Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber Verlag 2004,
344 Seiten, € 108,-, ISBN 3-89007-134-1
Rainer Kleinertz: Grundzüge des spani-schen Musiktheaters
im 18. Jahrhundert, Edition Reichenberger, Kassel 2003, 2 Bde.,
339/328 Seiten, € 89,-, ISBN 3-935004-74-5