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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 41
54. Jahrgang | März
Bücher
Von den Anstrengungen der Demokratie
Orchestermusiker zwischen Anspruch und veralteten Organisationsstrukturen
Deutsche Orchester. Zwischen Bilanz und Perspektive, hrsg.
von der Jungen Deutschen Philharmonie, ConBrio, Regensburg 2004,
160 S., € 18,90, ISBN
3-932581-66-0
Von
außen betrachtet ist Deutschland ein Traumland für Orchestermusiker.
Einer kürzlich veröffentlichten Studie zufolge bilden
diese eine besonders zufriedene Berufsgruppe. Liegt das vor allem
an den tariflichen Privilegien, die einen Kritiker an die „allgemeinen
Geschäftsbedingungen des Schlaraffenlandes“ erinnerten
und Staatsministerin Christa Weiss an eine „weltfremde Verwöhnlandschaft“?
Ganz anders der Kritiker Wolfram Goertz: er beschreibt im vorliegenden
Band Deutschlands gegenwärtige Musikkultur als Krankenhausmärchen.
Von den 168 Berufsorchestern, die es 1992 in Deutschland gab, haben
nur 136 überlebt. Die Zahl der Orchesterplanstellen ging damit
von 12.159 auf 10.311 zurück. Diese Krise entspringt nicht
nur dem Sparzwang der Länder und Gemeinden, sondern kommt auch
von innen, aus der Einengung des Repertoires und einer verbreiteten
Routinehaltung der Musiker. „Die wirklich interessante Musik,
bei der sich ein wacher Musikergeist beanspruchen lassen müsste,
hat längst den Exodus aus dem sinfonischen Konzertalltag genommen.“
Goertz vermittelt plastische Einblicke in den Betrieb, in Fragen
der Dienstverteilung, der Aushilfen, Sonderverträge und Nebentätigkeiten.
Der typische Orchestermusiker opfere mit dem Dienstvertrag Kreativität
und Eigeninitiative, um im Kollektiv zu funktionieren.
Die vor dreißig Jahren gegründete Junge Deutsche Philharmonie
entwickelte das Gegenmodell eines demokratischen und selbstbestimmten
Orchesters, das auch über die Programme und Arbeitsformen bestimmt.
Fast ebenso wichtig wie die Arbeit im Tutti sind dabei die kleineren
Formationen, wobei zeitgenössische Musik einen großen
Stellenwert einnimmt. Mit neuen Vermittlungsformen versucht man
neue Publikumsschichten zu gewinnen. Sind solche Forderungen noch
aktuell? Um dies zu überprüfen, gab das Orchester eine
Studie in Auftrag und ließ jetzige und frühere Mitglieder
befragen. Dabei ergab sich, dass die Mitwirkung in diesem Orchester
nicht nur für die gleichberechtigten Frauen positiv und karrierefördernd
war. Mehrheitlich wurde eine gesteigerte Motivation zur künstlerischen
Arbeit und überhaupt eine tiefere Beziehung zur Musik festgestellt.
Trotz dieser positiven Bewertung überwog dann aber die Meinung,
dass dieses Modell auf Berufsorchester nicht übertragbar sei.
Es erfordere einen zu hohen Zeitaufwand und widerspreche außerdem
der Mentalität der Orchestermusiker und der Praxis des Konzertlebens.
„Demokratie ist anstrengend“, hatte Wolfgang Thierse
im Vorwort bemerkt. Ist sie für deutsche Orchester vielleicht
sogar zu anstrengend?
Obwohl die Forderung nach Mitsprache bei der jüngeren Musiker-Generation
offenbar eine geringere Rolle spielt als noch vor zehn Jahren, haben
sich einige Ideen aus der Jungen Deutschen Philharmonie durchgesetzt.
Dazu gehören Vermittlungsformen
wie Familienkonzerte oder Einführungsveranstaltungen. Wolfram
Goertz macht weitere Vorschläge, um die Orchester besser in
einer Stadt zu verankern und auch unerfahrene Hörer für
Klassik zu gewinnen. Warum gehen Orchestermusiker nicht zweimal
im Jahr in die Fußgängerzone, fragt er, und machen dort
Straßenmusik? Überhaupt müssten sie offensiver werden,
wagemutiger, tatenlustiger. Auch Gerald Mertens, der Geschäftsführer
der Deutschen Orchestervereinigung, möchte in Zukunft das Thema
„Musikvermittlung“ noch offensiver durchsetzen, ohne
sich dem Diktat der Quote zu beugen. Allerdings müssen im Orchester
der Zukunft, so Karsten Witt, auch neue Organisationsformen und
Kommunikationsstrukturen erprobt und durchgesetzt werden. Nur so
könne das Repertoire erneuert und verbreitert, die Qualität
gesteigert und dann auch die Mitsprache wieder attraktiver werden.
Eine bloße Verbesserung des Orchestermanagements, wie von
Mertens angemahnt, reicht dazu wohl nicht aus.
Das lesbar geschriebene, attraktiv gestaltete und durch persönliche
Erfahrungsberichte bereicherte Buch blickt also nicht nur hinter
die Kulissen der deutschen Orchester, sondern fragt auch nach ihren
Zukunftsmöglichkeiten in einem mehr und mehr von Medien beherrschten
Musikleben.