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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 39
54. Jahrgang | März
Rezensionen
Garantiert nicht verpfiffen
Phonoerzeugnisse von New Order, The Mars Volta, Lisa Stansfield
und Tommy Smith Sextett
In der Hoffnung, die kroatische Wettmafia hat ihre Finger nicht
im Veröffentlichungsgeschäft der Phonoindustrie vergraben,
wobei manche Alben hart am wahllosen Rande der Legalität oder
zugelost erscheinen, darf man sich in der Fastenzeit wohl wenigstens
mit vorösterlichem Phono-Alkohol versorgen.
Der scheint im Fall der Melodic Rocker Heartbreak Radio und ihrem
selbst betiteltem Album zunächst aus dem 80er-Keller zu kommen,
entpuppt sich aber nach längerem Genuss als Wohltat. Denn:
Die Band um Mikkey Dee (Schlagzeuger bei Motörhead) steht zu
ihren Rockposen, produziert die typischen „Bon Jovi“-
Balladen und fährt bei den Rocknummern den sicheren „Foreigner“-
Stil. Schön abhebend vom Rockallerlei. Kristofer Aström
fährt im Album „So much for staying alive“ wieder
mit seiner Band „Hidden Truck“. Zwischen Country, furchtloser
Melancholie, Roadmovie- Folk und zuweilen angestrengtem Songwriter-Pop
gibt der Schwede tiefe Einblicke, sägt schräge Sounds
durch die kahlen Landschaften und zeigt sich im Vergleich zu früheren
Alben gewachsener. Zurück ist die Kult- poporganisation New
Order. „Waiting For The Sirens’ Call“ überrascht
nicht, denn dass die Sound- Majestäten große Melodiemacher
sind, wusste man, dass sie das 2005 mit adäquaten Kompositionen
umsetzen können, ist vielmehr eine Bestätigung. Wunderbare
Popsongs haben sie ohne Gesten der Großkotzigkeit übersichtlich
und britisch wehmütig arrangiert. Prima Comeback. Schon auch
ein Comeback verfolgen die Heidelberger Liquido bei „Float“.
Seit drei Alben von den Formatmedien auf ihren Megahit „Narcotic“
festgenagelt, präsentieren sie mit „Float“ ein
Album, dem zwar die zündenden Ideen fehlen, das aber nicht
dem einstigen Hit hinterher hechelt, sondern Richtung „The
Get Up Kids“ tendiert: Also alternativer Rock mit kleinem
Punkeinschlag und vorsorglicher Mitsingbarkeit.
Endlich ein Songwriter, der zu seinen Lastern steht, ist Matt Elliott.
Geradeaus nennt er sein Album „Drinking Songs“, posiert
mit Weinflasche und Zigarette auf dem Info und begeistert mit einer
Weltschmerz- Mixtur aus Wein, Folk und gehauchter Elektronik. Mystisch
wie unglaublich erdrückend. Eher psychedelisch entrückt
brilliert Porcupine Tree mit „Dead Wing“. Instrumental
am höchsten Limit, stimmig in Aussage, Energie und Song, fahren
sie ein Feuerwerk ab, das oft an die Progrock- Zeiten der Band erinnert,
aber durch die trockenen Gitarrenriffs übersichtlicher als
die Vorgänger wirkt. Dagegen voll im Songschreiber-Leben stehend
freut man sich über Denison Witmer und sein Album „The
River Bends“. Selbst bedrückende Harmonien weiß
er in Dur umzukehren, lässt sich erstmals von einer Band begleiten,
die dem Solokünstler genug Platz frei schaufelt, die Emotionen
zwischen Indierock und Country- Grunge auszuleben. Das Münchener
Atomic Café bietet nach dem Schwedensampler „Atömström“
nun die tanzbare „Beatschuppen“- Kompilation. Die Interpreten
(u.a. The Tower, The Remo Four, Bobby Valentine) holen Tanzmusik
der 60er auf das Nachtclub-Parkett, bestehend auch aus Soul, Beat
und Garage-Einflüssen. Sehr ausgeflippt! Dass einheimische
Bands noch besser sein können als uns Stefan Raab kürzlich
vorführte, beweist Fidget aus Düsseldorf. Rocksongs in
allen Gewändern sind ihr Metier. Mal punkig wie Iggy Pop, dann
zornig wie Seattle-Grunge aber auch liebkosend im Stil eines David
Poe vermögen sie auf „The Merciless Beauty“ zu
verwundern. Sollte man gern haben diese Band.
Geradliniger Metal mit Gothic-Klang kommt mit Autumn aus Holland.
„Summer’s End“ scheint zwar zur falschen Jahreszeit
betitelt, aber wenn man vergleicht, mit welch mauen Metalwerken
man zuletzt überrannt wurde, ist Autunm ein Segen, falls die
Evanescence-Masche nervt.
Ein weiteres Comeback feiert Lisa Stansfield mit „The Moment“.
Intelligenter Pop mit zartem Experimentier- Charme, der etwa mit
Produzent Trevor Horn (Seal) entstand. Einen heißen Sound
hat sie sich da verpasst und wenn „sophisticated“ Pop
je ins Wartezimmer des Schönheits- Chirurgen passte, dann erweitert
sich die Auswahl jetzt erheblich. Die wahnsinnigen Retter des Rock,
The Mars Volta, sind mit „Frances The Mute“ zurück.
Viel hätte bei dieser Urknall- Mucke schief gehen können,
doch Cedric Bixler-Zavalas und Omar Rodriguez-Lopez haben ihr Opus
ein Stück mehr Richtung Genialität gehievt. Wer futuristische
Rockmusik der kommenden 50 Jahre nun schön hören möchte,
wird um „The Mars Volta“ keinen Bogen machen können.
Der Tenor Saxophonist Tommy Smith und sein Sextett (mit John Scofield,
John Patitucci oder Bill Stewart) zelebrieren Jazz der höheren
Schule ohne abzuschweifen. Sechs fruchtige Kompositionen vergehen
viel zu schnell und wem die Gedichte des Schotten Edwin Morgan unbekannt
sind, kann sie mit Tommy Smith in der Nachvertonung hören.
James Robinson veröffentlicht mit „Colours“ ein
erstaunliches, rein instrumentales Gitarrenalbum. Die Einflüsse
der San Fransisco Bay bestimmen seine Stilvielfalt, die zwischen
Flamenco, Jazz, Gypsy und Folk schwankt und beruhigender als Lexotanil
ist. Gewagt tritt das Hamburger Duo Diagonal in „Tango 004“
auf. Mit Violine und Akkordeon erklären sie ihre Version des
Tangos und seine Spielarten. Beängstigend manchmal, aber mit
so viel Courage gespielt, dass es unglaublichen Spaß macht,
den beiden zu lauschen.
Sven Ferchow
Heartbreak Radio – Heartbreak Radio (14.3.2005, AOR Heaven)
Kristofer Aström – So much for staying alive (7.3.2005,
V2 Records)
New Order – Waiting For The Sirens’ Call (28.3.2005,
London Records)