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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 37
54. Jahrgang | März
Rezensionen
Erfolgreich im Schattenwurf der Großen
Zur Funktion der Nischen-Labels als Kulturbewahrer
Es entspricht einem Naturgesetz, dass Mangelerscheinungen, die
einen Bereich absterben lassen, durch nachwachsende Elemente ersetzt
werden. Für den Kultur-Bereich gilt das höchstens mit
Einschränkungen. Kultureinrichtungen, die zur Disposition gestellt
werden, gehen in der Regel für alle Zeiten verloren; nichts
Entsprechendes tritt an ihre Stelle. Einschlägige Beispiele
liefern den Beweis: Der Tatbestand geschlossener Theater und aufgelöster
Orchester erweist sich als irreversibel.
Der vor Jahren weithin vollzogene Abbau der Tonträgerindustrie,
besonders ihrer klassischen Programme, der sich für viele unvorhersehbar
ereignet hatte, führte zu anderen Konsequenzen. Die bedauerlichste
bestand darin, dass die Firmen ihre Künstlerverträge auslaufen
ließen und die Interpreten als Folge ihr Tonträger-Image
quasi über Nacht einbüßten. Die ungenau informierte
Öffentlichkeit zog daraus häufig den falschen Schluss,
die gekündigten Solisten oder Ensembles hätten sich aus
der aktiven Tätigkeit zurückgezogen. Dadurch versanken
Teile des künstlerischen Berufsstandes in der Anonymität
mit nachfolgender eindeutig berufsschädigender Wirkung. Das
sind unabweisbar negative Folgen.
Andererseits zogen diese Abschmelzungsvorgänge in der Plattenindustrie
einen Revitalisierungsprozess von substantieller Qualität nach
sich: Die CD-Klein-Labels nutzten die Lage und damit ihre Chance.
Sie hatten schon vorher im Schattenwurf der Großen –
nicht selten erfolgreich – eine andere Editionspraxis als
die der Marktführer eingeschlagen und durchgesetzt. Der nun
erfolgende Markt-Rückzug der Großen bestärkte die
Klein-Labels, ihre frühere Ausgangsposition wieder einzunehmen:
Sie konzentrierten sich auf ein in dieser Art vorher niemals konsequent
umgesetztes Repertoire-Denken. Das ließ sich erneut erfolgversprechend
an, so dass sich binnen kurzem weitere Klein-Labels etablierten
und die Tonträger-Szene sich international zu beleben begann.
Diese Situation hält bis heute an.
Die Kleinlabels analysierten – und sie tun das weiterhin
– bislang kaum oder nie beachtete Ränder der spielfähigen
Musikliteratur und versuchten deren Integration ins Repertoire.
Für ihre Darstellung auf Tonträger (de facto für
die Einspielung bislang unbekannter Musik populärer und auch
nichtpopulärer Komponisten) verpflichteten sie Interpreten,
auf deren Kompetenz sie bauten – ungeachtet ihres möglicherweise
geringeren Bekanntheitsgrades und aktuellen Markt-wertes. Infolgedessen
finden Musikinteressenten, die nicht nur auf das bekannte und ständig
reproduzierte Repertoire setzen, heute, wenn sie es finden, ein
reiches Feld vor. Sie werden auf eine bislang nicht greifbare musikalische
Literatur vom Barock bis in die Neuzeit verwiesen. Dass der Reiz
der Fundstücke nicht immer anhält und die interpretatorische
Qualität schwankt, liegt in der Natur des besonderen Ansatzes.
Auf jeden Fall hat sich das Feld der Musik vergrößert,
ist gegenüber früher breiter ausgelegt und variabler gestaltet.
Nun ist der Plattenkäufer, da es heute kaum noch große
und gutsortierte Schallplattenläden gibt, häufig genug
auf eigene Geschicklichkeit angewiesen, wenn er sich einen angemessenen
Überblick über das vorhandene Angebot verschaffen will.
Bei den Klein-Labels treten erschwerend relativ instabile Vertriebspraktiken
hinzu, so dass man oft nicht sicher weiß, wie die Programme
aussehen und wie man ihrer habhaft werden kann. Bei den Angaben
auf den CDs der Klein-Labels fehlen fast durchgehend Hinweise auf
Vertriebsweg oder Distributionsverfahren – vermutlich auch
deshalb, weil Geschäftsverbindungen mit den Vertreibern schnell
wechseln können und ausgedruckte Hinweise somit nach kurzer
Zeit ungültig wären.
Die Lage wirkt deshalb etwas ungeordnet, und erschöpfender
Information sind häufig Grenzen gesetzt. Man ist auf mehrere
Quellen angewiesen, um verlässliche Auskunft zu erhalten und
auf besondere Strömungen und Entwicklungen aufmerksam zu werden.
Eine von mehreren derartigen Strömungen, ein wichtiger und
inzwischen qualitativ wie quantitativ reichhaltiger musikalischer
Literaturbereich auf CD, sei hier herausgestellt: der mit historischen
Aufnahmen. Deren geradezu schubartiger Ausstoß hat erfreuliche
Gründe. Viele bedeutende Einspielungen der Vergangenheit gelten,
weil in den offiziellen Firmen-Programmen gestrichen, als vergriffen,
bleiben aber begehrt. Dann waren viele Langspielplatten mit klassischer
Musik, heute nur noch in wenigen Spezialläden mit Glück
auffindbar oder in Privatbesitz, nie auf CD veröffentlicht
worden. Zum dritten sind in Archiven, vor allem der Rundfunkanstalten,
große Teile eines aufgenommenen und gesendeten, aber nie veröffentlichten
Repertoires vorhanden.
Diese Umstände weckten unternehmerische Fantasien, zumal die
Rundfunkarchive als wichtige Schatzhüter dem Ansinnen zunehmend
gewogener wurden, ihre Vorräte zu sichten und nach Klärung
der urheberrechtlichen Besitzverhältnisse Labelbetreibern Konzertmitschnitte
oder Studioaufnahmen zur Veröffentlichung freizugeben. Ebenso
erwiesen sich Buch- oder Schallplattenclubs offen für Rechtsabtretungen.
Und auch die Rechtsnachfolger berühmter Dirigenten und Solisten,
aber vor allem von personenintensiven Ensembles, an der Spitze namhafteste
Orchester und Chöre, blockierten – von Einzelfällen
abgesehen – nicht länger durch überhöhte finanzielle
Forderungen die Veröffentlichung vorhandener Aufnahmen.
Inzwischen haben sich Spezial-Labels, aber auch namentlich seit
langem bekannte Firmen auf die Veröffentlichung historischer
Einspielungen eingerichtet. Beispiele ohne den geringsten Anspruch
auf Vollständigkeit mögen die heute bestehende Situation
umrisshaft beleuchten. Das Münchner Label Orfeo bietet Mitschnitte
von Opern- und Konzertaufführungen, teilweise schon kurz nach
deren Entstehung, von den Salzburger Festspielen an, außerdem
aus der Bayerischen Staatsoper eine Fülle von Opernaufnahmen,
die durch Direktübertragungen des Bayerischen Rundfunks entstanden
sind, oder Konzertmitschnitte mit dem Bayerischen Staatsorchester.
Das Label audite ediert eine ausgezeichnete Aufnahmen-Serie mit
Rafael Kubelik. Der Heidelberger Musikvertrieb Note 1 vertritt momentan
drei auf historische Aufnahmen ausgerichtete Labels: Testament,
Music & Arts, Archiphon. Allein das Dirigenten-Angebot mit Schuricht,
Barbirolli, Klemperer, Bruno Walter, Furtwängler, Toscanini,
Guido Cantelli und anderen, mit verschiedenen Orchestern und Programmen,
oftmals auch mit denselben Werken, aber in unterschiedlichen Aufführungen
durch den gleichen Dirigenten ist überwältigend. (Wobei
Klangbild und Wiedergabetechnik verständlicherweise nicht dem
aktuellen Standard entsprechen können, gehen die Mitschnitte,
zum Beispiel die von Walter, Furtwängler oder Toscanini doch
zum Teil bis in die 30er-Jahre zurück.)
Eine Besonderheit ist bei Testament zu konstatieren: Das Label
hat Günter Wands Aufnahmen mit dem Gürzenichorchester
veröffentlicht, die in den 50er- und 60er-Jahren für einen
französischen Plattenclub entstanden waren. Im Programm überschneiden
sie sich in Einzelfällen mit den NDR-Aufnahmen Wands bei RCA/BMG
und ermöglichen damit reizvolle Gegenüberstellungen. Der
Vergleich lehrt, dass Wands weithin beachteter Altersstil kein Wunder
bedeutete, vielmehr eine noch schlichtere und ganz auf den substanziellen
Kern der Musik dringende Darstellungsart gegenüber den früheren
Aufnahmen darstellt: Wands exzeptionelle Musizierhaltung war vor
dreißig Jahren mit dem Gürzenichorchester so bedeutend
wie die spätere mit dem Orchester des NDR. Um die Palette zu
komplettieren, hat das Label Profil der Edition Günter Hänssler
begonnen, Wands Aufnahmen mit dem Symphonieorchester des Bayerischen
Rundfunks zu veröffentlichen.
Die Komplexität des Angebots, für erwünschte Vergleiche
offen, ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Edition
historischer Aufnahmen, die gerade in Gegenüberstellung mit
aktuellen Einspielungen manches vorschnelle Urteil positiven oder
negativen Inhalts relativieren. Es ist zum Beispiel lehrreich, jungen
Pianisten, von denen so viele mit dem Schwersten, nämlich der
Musik Bachs, auf CD beginnen, Aufnahmen älterer Interpreten-Generationen
entgegenzustellen, etwa wenn Edwin Fischer beide Teile des Wohltemperierten
Klaviers so bekennerisch musikalisch ohne Verweise auf ungesicherte
Aufführungsstile musiziert und eben nicht gestisch-virtuos
drauflosspielt (die in diesem Fall vorliegende Aufnahme aus den
30er-Jahren nennt als Label Membran International und wird von antiquarischen
Buch-Sortimenten per Postversand angeboten).
Die Frage, ob der hier speziell herausgestellte Aspekt des Historischen
die ausführliche Erwähnung von CDs mit historischen Aufnahmen
rechtfertigt, sei vorsichtshalber gestellt. Aber geht es überhaupt
darum, Partei zu ergreifen für eine Interpretations-Richtung
auf Kosten anderer stilistischer Wiedergabeformen? Sicher nicht,
sondern es geht darum, die Tradition der Interpretationsgeschichte
als festen Bestandteil der Kulturgeschichte zu pflegen und diesen
Vorgang entsprechend zu begleiten. Dazu ist es notwendig, zeitverhaftete
Aufführungsstile im Sinne einer vorurteilsfreien Konzentration
auf das zu interpretierende Werk selbst zu relativieren. Das Medium
Tonträger und in diesem Bereich speziell das Klein-Label tut
Entscheidendes für die Bewahrung dieser Kultur, besitzt mithin
eine hohe Existenz-Notwendigkeit und einen hohen Grad von Effektivität.
Es trägt wesentlich dazu bei, die Variabilität des klingenden
Kunstwerks in Form vielerlei Darstellungsversionen zu präsentieren,
zu beweisen und zu dokumentieren. Die Klein-Labels sind innerhalb
des Mediums zu wichtigen Ausdrucksträgern dieser Aufgabenstellungen
geworden. Erst die Rückläufigkeit der Großen haben
ihren Daseinssinn zur Gänze offenbart.