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Ausgabe 2005/03
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nmz 2005/03 | Seite 31
54. Jahrgang | März
ver.die
Fachgruppe Musik

Im Tutti anspielen gegen die Auszehrung

Polens Orchester in der neuen Epoche · Von Dorota Szwarcman

Polnischer Kunst und Kultur in ihren vielen Facetten widmet die ver.di-Zeitschrift KUNST+KULTUR ihre jüngste Ausgabe. Hier und auf Seite 56 zwei Beiträge daraus zur Musik des Landes und ihrer Entwicklung nach 1989.

Nicht ohne Grund sagt man in polnischen Musikerkreisen, dass in fast jedem deutschen Symphonieorchester Polen, insbe- sondere Geiger, spielen. Das gilt besonders für die westlichen Bundesländer – viele Musiker sind in den 70er-, 80er-Jahren hierher ausgewandert, um ihr Brot zu verdienen, geflohen vor dem grauen Alltag und der Mühsal des Lebens im realen Sozialismus.

Polen gelangten nicht nur in die zahlreichen Orchester kleinerer deutscher Städte, sondern die besten drangen an die Spitze vor. In Berlin sind bei zwei wichtigen Orchestern seit Jahren Polen als Konzertmeister tätig: Daniel Stabrawa bei der Berliner Philharmonie und Tomasz Tomaszewski an der Deutschen Oper (in beiden Orchestern wirken auch noch Landsleute mit). Edward Zienkowski wurde nach einigen Jahren bei der Berliner Philharmonie Konzertmeister des Orchesters des WDR, und letzthin saß er hinter dem ersten Pult des Orchesters der Wagner-Festspiele in Bayreuth. Krzysztof Wegrzyn ist Konzertmeister des Opernorchesters in Hannover. All diese hervorragenden Geiger sind gleichzeitig geschätzte Professoren an Konservatorien.

Polnische Orchestermusiker begaben sich vor 1989 aber nicht nur nach Deutschland, sondern auch in den Libanon oder nach Teheran (noch während der Herrschaft von Schah Reza Pahlewi). Selbst in Lateinamerika fehlten die Polen nicht – die meisten spielten in Mexiko (in den Orchestern von Mexiko City und Guadalajara), andere in Kolumbien.

In dieser Hinsicht hat sich nach der politischen Zäsur von 1989 nicht viel geändert: Die Auswanderung von Musikern aus beruflichen Gründen ist nicht zum Stillstand gekommen. So wächst die Zahl der polnischen Musiker beispielsweise in Zürich und Basel noch immer – dort sind die beiden Geiger tätig, die 1991 in Posen gleichrangig beim Internationalen Wieniawski-Wettbewerb siegten: Piotr Plawner und Bartlomiej Niziol. Letzterer war während mehrerer Spielzeiten Konzertmeister des Zürcher Tonhallenorchesters und seit letztem Jahr des dortigen Opernorchesters.

Wenn so viele Orchestermusiker Polen verlassen haben, bleiben dort überhaupt noch welche übrig? Es sind etliche. In Polen werden schließlich an 247 Schulen der Grundstufe, an 90 Schulen der mittleren Stufen und acht Musikakademien Musiker ausgebildet. Selbst wenn man nur die Absolventen der Instrumentalklassen der Hochschulen zusammennimmt, ist es für die heutigen Verhältnisse in Polen eine ansehnliche Menge, und auf viele von ihnen wartet leider die Arbeitslosigkeit oder der Berufswechsel.

Die Zeiten sind schwierig geworden. Eine der Ursachen liegt auf der Hand: Die weltweite Wirtschaftskrise, die sich in Polen, wo die Systemtransformation noch immer nicht abgeschlossen ist, besonders empfindlich bemerkbar macht. Eine andere Ursache ist die Krise des Publikums, die von der unzureichenden Bildung der potentiellen Zuhörer herrührt: Durch verfehlte Bildungsreformen ist im allgemeinen Schulwesen überhaupt kein Musikunterricht mehr vorgesehen, und die Schulen, an denen es ihn als Wahlfach gibt, kann man mit der Lupe suchen. Junge Leute müssen die Musik selber entdecken – und natürlich kommt bei ihnen vor allem das an, was die Medien lancieren: die Unterhaltung. Daher ist es in Polen heute schwer, von sich aus, allein dank eigener Vorlieben und Sensibilitäten, zum Liebhaber ernster Musik zu werden.

So ist eine absurde Situation entstanden: Es gibt viele Orchester und wenig Publikum (letzthin ist jedoch wieder ein Wandel zum Besseren eingetreten – offensichtlich ist allein das Triviale den Leuten doch nicht genug). Weil sich aber gerade eine Generation an der Macht befindet, die mit ernster Musik am wenigsten vertraut ist, ist es auch mit den Subventionen für diese Musik nicht einfach – wie übrigens für die gesamte Hochkultur. Hinzu kommt, dass die breite Masse der polnischen Gesellschaft heute recht arm ist. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn an vielen polnischen Philharmonien seit Jahren ein Klima des Marasmus herrscht und die Programme der seltener werdenden Konzerte auf ein populäreres Repertoire schrumpfen.

In den Zeiten der Volksdemokratie entstanden in immer mehr Städten Philharmonien; heute gibt es 22 (eigentlich sogar 23, wenn man die vielen deutschen Hörern bekannte Zoppoter Kammerphilharmonie mitzählt). Zwei dieser Institutionen wurden nach dem Krieg reaktiviert: die Warschauer Philharmonie, deren Traditionen in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreichen (gegründet 1901, trägt sie seit 1955 den Namen Nationale Philharmonie) und die seit 1915 bestehende Lodscher Philharmonie (anfangs als Symphonieorchester Lodsch). Die meisten nach dem Krieg entstandenen Klangkörper haben eine ähnliche Geschichte: Es entstand ein Orchester, das irgendwann verstaatlicht wurde und schließlich den Status einer Philharmonie erhielt. Die gleich nach dem Krieg gegründeten Orchester in Krakau, Posen und Kattowitz (Schlesische Philharmonie) hatten von Anfang an den Status einer Philharmonie; relativ früh erlangten auch Lublin und Breslau diese Ehre. Zu Philharmonien wurden in den sechziger Jahren die Orchester in Kielce, Stettin, Köslin und Rzeszów, in den siebziger Jahren die Orchester in Bialystok, Tschenstochau, Hirschberg, Allenstein, Kalisch, Oppeln, Grünberg und Danzig (als Ausgliederung von der Ostseeoper). 1978 wurde die Sudeten-Philharmonie in Waldenburg gegründet, und als letzte Philharmonie entstand Mitte der achtziger Jahre die Philharmonie von Zabrze/Hindenburg (zuvor unter dem Namen „Filharmonia Górnicza“ (Bergmanns-Philharmonie).

Außerdem gibt es in Polen neun Orchester an Opern in größeren Städten sowie sogar drei (Kammer-)Orchester an der kleinsten Oper des Landes, der Warschauer Kammeroper. Der polnische Rundfunk hat gegenwärtig zwei Symphonieorchester – zu den besten im Lande gehört das in Kattowitz ansässige Nationale Symphonieorchester, das Warschauer Polnische Rundfunkorchester, aber auch das auch im Ausland bekannte Kammerorchester Amadeus. Die Kammerorchester unterstehen gewöhnlich städtischen oder Wojwodschaftsbehörden. So unterhält die Stadt Krakau außer ihrer Philharmonie das Ensemble und den Chor Capella Cracoviensis sowie das Kammerorchester Sinfonietta Cracovia. Hier wirkte auch das geschätzte Rundfunkorchester, das in den neunziger Jahren wegen mangelnder Finanzierung aufgelöst wurde.

Diese Vielzahl von Musikern muss irgendwie den Lebensunterhalt verdienen. Bei manchen Philharmonien in der Provinz reicht das Geld gerade für ein Symphoniekonzert im Monat. Bei den meisten Orchestern entstehen daher Kammerensembles, die man für gelegentliche Konzerte oder geschäftliche Veranstaltungen engagieren kann; auch besuchen sie die Schulen in der Umgebung, um die Jugend für die Musik zu gewinnen. In den grenznahen Regionen im Westen und Süden wurde die Öffnung mit dem Beitritt zur EU zur Herausforderung: Die Niederschlesische Philharmonie in Hirschberg gastiert mit einem kompletten Konzertzyklus in verschiedenen Städten Deutschlands und der Tschechischen Republik, ähnlich halten es die Stettiner und die Sudeten-Philharmonie. Die größere Öffnung zu den östlichen Nachbarn macht sich seit den neunziger Jahren in der personellen Zusammensetzung der Orchester in Rzeszów und Hirschberg bemerkbar, in denen ukrainische Musiker mitwirken, was der Qualität dieser Orchester übrigens gut getan hat.

Orchester gibt es in Polen also reichlich. Aber wie ist ihr Niveau? Über einige kann sich das weltweite Publikum ein Urteil bilden, sowohl in Konzerten wie auf CD (die meisten Einspielungen erscheinen unter dem Label „Naxos“). Auch hier hat sich im Vergleich zur Zeit vor 1989 nicht viel geändert: Die besten Ensembles sind das Nationale Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks, das seit zwei Spielzeiten von seinem neuen Dirigenten Gabriel Chmura geleitet wird, und die Sinfonia Varsovia, ein in seiner Art einmaliges Phänomen: Das Orchester hat keinen festen Dirigenten und hält gleichwohl ein phantastisches Niveau (jahrelang war Lord Menuhin sein wichtigster Gastdirigent, gegenwärtig ist es Krzysztof Penderecki). Die Sinfonia Varsovia entstand durch eine Erweiterung des einst berühmten Polnischen Kammerorchesters, das von Jerzy Maksymiuk gegründet wurde; sie tritt gelegentlich noch in dieser Form auf (Gastdirigent ist derzeit meist der Geiger Nigel Kennedy).
An Rang gewonnen hat in den letzten Jahren das Orchester des Wielki Teatr-Opera Narodowa in Warschau, seit dem ihm Jacek Kasprzyk vorsteht, der er ausgezeichneter Kapellmeister und Preisträger des Karajan-Wettbewerbes ist. Ein anderer, früherer Preisträger dieses Wettbewerbes, der langjährige Chef des Nationalen Symphonieorchesters des Polnischen Rundfunks Antoni Wit, leitete vor zwei Jahren die Nationale Philharmonie. Andere Philharmonien in größeren Städten – in Breslau, Posen oder Krakau – erleben ein Auf und Ab; in letzter Zeit zeichnen sich hier Veränderungen ab, die ihnen möglicherweise zum Vorteil gereichen werden. Das Breslauer Ensemble hat seit dieser Spielzeit der britische Dirigent Jan Latham-Koenig übernommen, das Posener der in aller Welt geschätzte Grzegorz Nowak, und die Krakauer Philharmonie „umwirbt“ den schon erwähnten Nigel Kennedy, der sich jüngst in dieser Stadt niedergelassen hat; ein Kapellmeister ist er vielleicht nicht, aber sicher wird er viel Bewegung hineintragen. Die polnischen Orchester, namentlich die in der Provinz, kämpfen mit einer weiteren, für arme Länder typischen Schwierigkeit: der miserablen Qualität der Instrumente.

Dennoch hat sich in vielen kleineren Zentren Polens etwas getan. Eine junge Generation von Dirigenten ist angetreten, die schon im neuen Polen ausgebildet wurden und voller Energie arbeiten, im vollen Bewusstsein des Einflusses, den sie auf das kulturelle Leben ihrer Stadt haben können – und nicht nur, weil gute Einflüsse auch nach außen ausstrahlen. Jacek Rogala, Chef der Filharmonia Swietokrzyska in Kielce, führt moderne Musik und bekannte Namen in das Konzertprogramm ein, und er bemüht sich, den neuen Sitz auszubauen.

Marcin Nalcz-Niesiolowski, bis zur gegenwärtigen Spielzeit mit 32 Jahren der jüngste Direktor im Lande, leitet die Philharmonie Bialystok; er hat nicht nur den Konzertsaal so instandsetzen lassen, dass er akustisch einer der besten in Polen ist, sondern außerdem Schritte unternommen, um in Bialystok eine Opera Podlaska zu schaffen, die zugleich ein Europäisches Musik- und Kunstzentrum werden soll.

Eine Absichtserklärung von den städtischen und Wojwodschaftsbehörden liegt bereits vor (neue Konzertsäle sollen auch in anderen Städten entstehen, so in Krakau, Allenstein und Grünberg, und im Dezember 2004 wurde nach jahrelangem Wiederaufbau das Gebäude der Lodscher Philharmonie in Benutzung genommen).

Gerade die jungen Dirigenten haben die Chance, die Krise und den Stillstand der polnischen Provinz zu durchbrechen und sie voll und ganz in die EU einzubringen.

Übersetzt von Friedrich Griese

 

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