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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 1
54. Jahrgang | April
Leitartikel
Wie lange gehört Leipzig noch zu den Verlierern?
Über das Schicksal der Musikbibliothek Peters wird gegenwärtig
verhandelt · Von Albrecht Dümling
Mitte März kamen gute Nachrichten aus Leipzig: mit 2.100
Ausstellern aus 30 Ländern, einer deutlich vergrößerten
Ausstellungsfläche und über 100.000 Besuchern meldete
die Buchmesse Rekordzahlen. Traurig steht es dagegen um das jahrhundertelang
führende Musikverlagswesen der Stadt, von dem nur wenige Reste
blieben. Es ist nicht einmal sicher, ob ihr das schönste Erinnerungsstück,
die Musikbibliothek Peters, vollständig erhalten bleibt.
In besseren Zeiten residierten an der Pleiße große
Buchverlage so wie die Musikverlage Breitkopf & Härtel
und C.F. Peters. Wegweisend wurde die von Max Abraham begründete
Edition Peters, die 1867 mit Bachs „Wohltemperiertem Klavier“
begann, gefolgt von den Klaviersonaten Mozarts und Beethovens. Modernste
Drucktechniken und kompetente Herausgeber ermöglichten hohe
Qualität zu einem günstigen Preis. Da Abraham wusste,
dass ein funktionierendes Musikleben musikalische Bildung voraussetzt,
begründete er 1893 die Musikbibliothek Peters, eine Präsenzbibliothek
mit wertvollen Autographen, die neben dem Verlag ihr eigenes Gebäude
erhielt. 1897 stiftete er diese beispielhafte Bibliothek der Stadt
Leipzig und stellte zu ihrem Erhalt 400.000 Goldmark zur Verfügung.
Die Bibliothek, das Kapital und das Grundstück sollten in den
Besitz der Stadt übergehen, sollte der Musikverlag einmal erlöschen
oder Leipzig verlassen.
Auch Henri Hinrichsen, Abrahams Nachfolger, war ein vorbildlicher
Verleger, dem die Universität Leipzig 1929 den Ehrendoktortitel
verlieh. Großzügig unterstützte er das Musikinstrumenten-Museum
und die Henriette-Goldschmidt-Schule, die erste deutsche Hochschule
für Frauen. Wegen seiner Verdienste um die Musikkultur und
devisenträchtiger Exporte ließen die Nazis Hinrichsen
trotz seiner jüdischen Herkunft bis 1938 ungestört. Dann
aber geschah schlimmstes Unrecht: der Verleger musste die Traditionsfirma
C.F. Peters unter Wert verkaufen und einem arischen Verlagsleiter
übergeben. Von der Verkaufssumme blieb ihm nichts. Hinrichsen
konnte nicht einmal sein nacktes Leben retten und wurde 1942 in
Auschwitz ermordet – nicht in Theresienstadt, wie das neue
MGG angibt (siehe
Besprechung von Priebergs „Handbuch Deutscher Musiker 1933–1945“,
S. 45).
Nachdem alliierte Luftangriffe Leipzigs Verlagsviertel schwer zerstört
hatten, vergrößerten die Amerikaner 1945 noch die Verlustliste.
Gezielt verlagerten sie Buch- und Notenverlage, darunter Breitkopf
& Härtel, nach Wiesbaden beziehungsweise Frankfurt, um
sie vor der Roten Armee zu „retten“. Johannes Petschull,
der arische Nachfolger Henri Hinrichsens, half bei diesen widerrechtlichen
Auslagerungen. Zahlreiche Kisten mit Notenmaterial und Druckplatten
ließ er von Leipzig in den Westen abtransportieren. Diese
aus der alten Verlagsstadt „geretteten“ Früchte
gehörten zum Startkapital des neu gegründeten C.F. Peters
Musikverlags Frankfurt, der nun mit dem Stammhaus konkurrierte.
Die „Wende“ von 1989 bedeutete für Leipzig eine
ähnlich zwiespältige Zäsur wie 1945, denn wieder
folgten Westverlagerungen. Mitte der 90er-Jahre stand die einst
blühende Stadt nur noch auf Platz 24 der deutschen Verlagsstandorte.
Die Edition Peters Leipzig ging fast auf Null zurück. Zwar
erinnern heute eine Straße und ein Henri-Hinrichsen-Saal im
Musikinstrumentenmuseum an den mäzenatischen Verleger, aber
sein vom Bombenhagel verschontes Verlagshaus in der Talstraße
10, die Henriette-Goldschmidt-Schule sowie der einstige Sitz der
Musikbibliothek Peters wurden inzwischen an privat verkauft.
Seit Sommer 2004 hört man Alarmierendes über diese Musikbibliothek.
Etwa 450 kostbare Stücke aus ihren Beständen, darunter
die unschätzbare Handschrift zu Felix Mendelssohns Chorkantate
„Die erste Walpurgisnacht“, wurden vom Londoner Auktionshaus
Christie’s abgeholt. Angeblich ging es nur darum, so Karl
Rarichs, der Geschäftsführer von C.F. Peters Frankfurt,
den Wert der Autographen festzustellen.
Wie war es möglich, dass die wertvollsten Stücke dieser
Bibliothek, die 1897 der Stadt vermacht worden waren, überhaupt
Leipzig verlassen konnten? Das Auktionshaus beruft sich auf die
Anwälte der Eigentümer, die 1998 mit den Städtischen
Bibliotheken einen neuen Dauerleihvertrag über die Musikbibliothek
Peters geschlossen hatten. Darin wurde erklärt, sie solle „ohne
zeitliche Begrenzung“ in Leipzig bleiben. Haken des Vertrages
war nur, dass er jederzeit gekündigt werden konnte. Die Rechtsposition
der Stadt Leipzig hat sich damit nicht verbessert, sondern verschlechtert.
Das Vorgehen der Peters-Anwälte löste nicht nur bei Leipzigs
Kulturdezernent Georg Girardet Irritation aus. Weiterhin bleibt
unklar, in wessen Interesse hier gehandelt wurde. Der inzwischen
75-jährige Rarichs hatte erklärt, die New Yorker Eigentümer
des Verlags seien in finanziellen Schwierigkeiten und dächten
über den Verkauf einzelner Stücke nach. Evelyn Hinrichsen,
die Witwe des New Yorker Verlegers Walter Hinrichsen, ist nach langer
Krankheit im Januar gestorben. Ihre Tochter Martha will die Musikbibliothek
in Leipzig belassen. Der Musikwissenschaftler Christoph Wolff, zugleich
Leiter des Bach-Archivs, verhandelt inzwischen im Auftrag der Stadt
mit der Erbengemeinschaft Hinrichsen über den möglichst
vollständigen Verbleib der kostbaren Bibliothek in Leipzig.
Er spricht von guten Fortschritten. Die Musikwelt und auch diese
Zeitung wird Nachrichten darüber aufmerksam verfolgen. Im Sinne
Henri Hinrichsens hätte die gebeutelte Musikstadt Besseres
verdient, nämlich eine wirkliche Wende – den Übergang
vom Abbau ihrer Musikverlage zu ihrem Wiederaufbau.