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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 1
54. Jahrgang | April
Leitartikel
Zwei Klassen
Die deutsche Orchesterlandschaft, einst einer klassischen Schäferidylle
ähnelnd oder dem Land, wo Milch und Honig fließen, bietet
sich dem Auge inzwischen weniger freundlich dar. Wachsende Verkarstungen
sind zu konstatieren in Form von Reduktionen, Streichungen oder
Zusammenlegungen bei den so genannten Klangkörpern. Sogar die
scheinbar auf ewig blühenden Landschaften der Rundfunkorchester
leiden inzwischen unter Sparpilzbefall – darüber ist
hier schon mehrfach berichtet worden. In dieser Ausgabe (Seite
25) findet sich dazu ein Gespräch mit dem Geschäftsführer
der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), Gerald Mertens.
Den nächsten Schritt bei der Entkultivierung der Orchesterlandschaft
setzten jetzt die Bremer Philharmoniker, das einstige Philharmonische
Staatsorchester, aus dem vor drei Jahren die Bremer Philharmoniker
GmbH hervorging. Betriebsrat und Geschäftsführung der
bürgerlichen Gesellschaft mit beschränkter Haftung nutzten
die neue Freiheit, um nunmehr die Zwangsjacke der für deutsche
Kulturorchester geltenden Tarifbindung abzuwerfen. Man einigte sich
darauf, dass bei den Bezügen neuer Musiker ab sofort das bisherige
Niveau unterschritten werden kann. Dem als „bundesweit einmaligem
Reformschritt“ apostrophierten Unternehmen werden sogar kulturpolitische
Qualitäten zuerkannt; man könne nunmehr flexibler auf
die aktuelle wirtschaftliche Lage reagieren. Über denkbare
künstlerische Einwirkungen hat man wohl nicht weiter nachgedacht.
Man stelle sich einmal vor, in nächster Folgezeit sitzen im
knapp neunzigköpfigen Philharmoniker-Ensemble vielleicht ein
Viertel schlechter bezahlte Musiker.
Sozialneid und gesellschaftliche Spannungen könnten die künstlerische
Arbeit negativ beeinflussen. Auch ist abzusehen, dass hoch qualifizierte
Instrumentalisten womöglich einen weiten Bogen um Bremen machen,
weil sie es ablehnen, sich als „Underdogs“ zu verdingen.
Die Folge wäre doch wohl auf Dauer ein Qualitätsverlust
des gesamten Orchesters. Ein weiterer Gesichtspunkt, der bei allem
völlig aus dem Blick gerät, ist die Vorstellung eines
gleichgestimmten, homogenen, von gemeinsamen künstlerischen
Zielen geprägten Ensembles, einer organisch zusammengewachsenen
Musiziergemeinschaft. Ein Orchester, das sich Kulturorchester nennt,
ist kein zusammengekaufter Musikantenhaufen, sondern Ergebnis einer
großen, sich immer weiter vertiefenden Integration, die auch
das Psychische umfasst. Aber was bewirkt das Jammern? Das Bremer
Beispiel dürfte bald Nachfolger finden. Ältere Musiker
in den Orchestern mucken nicht auf, solange ihnen die Besitzstandswahrung
zugesagt wird, der einzelne junge Instrumentalist, nicht unbedingt
hochbegabt und auf Stellungssuche, ist erst einmal froh, irgendwo
unterzukommen und akzeptiert die ökonomische Herabsetzung.
Auch das Publikum gewöhnt sich daran, dass sein Orchester
nicht mehr so glänzend wie früher klingt. Und den Politikern
ist ohnehin alles schnuppe, solange nicht die Diäten gekürzt
werden.