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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 45
54. Jahrgang | Mai
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Diario polacco
Das Fernsehen ist immer dann am besten, wenn ihm vorübergehend
die Kontrolle über die Inszenierung entgleitet. Dann machen
sich auf dem Bildschirm blitzschnell Anarchie und Mystik breit.
Letzteres passierte am Abend des 2. April, als der Papst gestorben
war.
Die Nachricht hatte sich schon inoffiziell verbreitet, und nun
warteten die Kamerateams zusammen mit der Menschenmenge auf dem
Petersplatz auf die offizielle Bestätigung. Kurz nach zehn
trat einer der Männer in Violett vor das Mikrofon. Er bestätigte
den Tod mit wenigen Worten. Und dann begann er zu singen. Halleluja.
Moment mal, dürfte sich da mancher Journalist gefragt haben,
ist das alles? Keine weiteren Erklärungen und Hintergrundinfos,
kein Futter für die Medien? Bei der Bundespressekonferenz läuft
das aber anders, da wird nicht gesungen!
Schlagender lässt sich der Unterschied zwischen weltlichem
und geistlichem Amt nicht demonstrieren, zwingender auch nicht die
Tatsache, dass Worte angesichts des Todes sinnlos sind. Die Besinnung
währte indes nur kurz. Nach einem Moment erholten sich die
TV-Moderatoren aus ihrer Verblüffung und gossen wieder ihr
verbales Ketchup über die Live-Bilder aus Rom. Womit das Fernsehen
wieder alles im Griff hatte. Die befremdliche Tatsache, dass jemand
singt, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen, war beseitigt.
An Gesängen bei Begräbniszeremonien aus Indien und Afrika
erfreut sich unser Touristengemüt. Die Wilden singen halt gern.
Aber wir selbst als Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft?
Wir lassen singen. Dafür stellt uns ja die Industrie ihre mp3-Songs
und Surroundanlagen zur Verfügung. Falls wir stimmliche Äußerungen
nicht lieber gleich durch den Tonhöhenfilter der Rap-Deklamation
schicken.
Singen als Schulfach ist heute mega-out, und als kultische Handlung
wird es in seiner Symbolik von der Mehrheit schon gar nicht mehr
verstanden. Mit dem Sinn für Transzendenz scheint der säkularisierten
Gesellschaft auch diese elementare Art des Menschen, sich andern
mitzuteilen, abhanden gekommen zu sein. Die Erfindung der Oper wäre
unter den heutigen Bedingungen nicht mehr möglich.
Doch da war ja noch dieser Bischof, der sich vor die Weltöffentlichkeit
hinstellte und mit seinem Gesang ein Fenster zu einer andern Wirklichkeit
öffnete. Plötzlich erinnert man sich an die Rede Luigi
Nonos von den „altri spazi“ und an sein zweites Polnisches
Tagebuch mit den emblematischen Titelworten von Welemir Chlebnikow,
„Quando stanno morendo“ – „Wenn sie sterben,
singen die Menschen.“
Beide Male der Tod als Anlass des Gesangs, beide Male dieselbe
symbolische Geste, wenn auch in anderem Zusammenhang. In Nonos entmaterialisierten
Vokallinien scheint noch etwas von der alten kultischen Funktion
des Singens anzuklingen; sie wurzeln offensichtlich in derselben
Tradition wie das Halleluja des Bischofs. Hat die viel beschworene
Faszinationskraft seiner Vokalkompositionen vielleicht etwas damit
zu tun? Oder woraus erklärt sich eigentlich ihre Aura?
Leichter zu erklären ist der Titel „Diario polacco“.
Nono, mehrfach zu Gast in Polen, protestierte mit dem Stück
gegen das Kriegsrecht von 1981, und Text und Musik sprechen eine
deutliche Sprache. Aber dass er diesen politischen Protest unter
anderem durch musikalische Symbole der Transzendenz ausdrückte,
ist irritierend und wird gern ignoriert. Sollte er etwa die Triebkräfte
des polnischen Widerstands in seiner künstlerischen Intuition
besser verstanden haben, als er es – auch noch nach seinem
Streichquartett – als idealistischer „alter Linker“
zugeben mochte? Auch an diese Frage hat der Gesang des Bischofs
auf dem Petersplatz erinnert.
Einstweilen muss man sich mit der Auskunft begnügen, die
das Werk selbst gibt. Doch eines ist sicher: An allen weiteren Antworten
wird der Tote im Vatikan mitschreiben. So viel Politik muss sein,
auch beim späten Nono.