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nmz-archiv
nmz 2005/05 | Seite 43
54. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Verfremdung und Entfremdung
Eine neue „Reihe“ mit einem neuen Werk von George
Lopez in Stuttgart
Stuttgarts Freunde und Förderer der Neuen Musik lassen sich
nicht unterkriegen. Der Südwestrundfunk hat zwar kürzlich
seine künftige Mitwirkung am renommierten Éclat“-Festival
aufgekündigt, wird höchstens noch einzelne Konzerte übernehmen,
aber keine Kompositionsaufträge mehr vergeben, doch trotz dieser
düsteren Nachrichten, zu denen noch die Sorge um den Erhalt
des SWR-Vokalensembles tritt, geben die noch
verantwortungsbewussten Gestalter des Stuttgarter Musiklebens, Abteilung
Neue Musik, nicht klein bei, schließlich steht im nächsten
Jahr das IGNM-Musikfest 2006 ins Haus und es wäre wohl ziemlich
blamabel, wenn die Musikstadt Stuttgart sich ausgerechnet zu diesem
ehrenvollen Termin als Abbruchunternehmen für Musikkultur präsentieren
würde. Über die zum Teil unüberlegten bis absurden
Sparpläne der Intendanz des Südwestrundfunks ist hier
schon mehrfach kritisch berichtet worden.
Rache an Hornisten –
der Komponist George Lopez. Foto: Charlotte Oswald
Um der Neuen Musik, die von Stuttgart aus schon immer weit in die
internationale Szene hineingewirkt und den Ruf des Musiklandes Deutschland
gefestigt hat, auch in Zukunft eine tragende substantielle Basis
zu sichern, haben sich mehrere Stuttgarter Institutionen zu einer
engeren Kooperation zusammengeschlossen, die nicht nur ökonomisch
verstanden werden will, vielmehr auch inhaltlich und in der Wirkung
nach außen, zum Publikum hin, das in Stuttgart erfreulich
zahlreich die Entwicklungen in der Musik unserer Zeit fachkundig
und mit Neugier verfolgt. An der Kooperation beteiligen sich die
Akademie Schloss Solitude, das Forum Neues Musiktheater der Staatsoper
Stuttgart, die „Musik der Jahrhunderte“, die im kommenden
Jahr das IGNM-Festival ausrichtet, und sogar der Südwestrundfunk
wird als Teilnehmer annonciert. Die neue Einrichtung erhielt den
doppeldeutigen Titel „Die Reihe“, Anspielung auf Zwölfton-Kompositionstechniken,
aber auch wohl die Hoffnung bekundend, dass aus dem Beginn mit dem
ersten Konzert im Theaterhaus auf dem Pragsattel eine möglichst
lange „Reihe“ von Folgeveranstaltungen herauswachsen
möge.
Für den markanten Auftakt der „Reihe“ verpflichtete
man, gleichsam als Hinweis auf die beabsichtigte interpretatorische
Qualität der Konzerte, mit dem „Klangforum Wien“
ein internationales Spitzenensemble, das einst vom Komponisten Beat
Furrer gegründet wurde und derzeit mit Sylvain Cambreling als
ständigem Spiritus rector zusammenarbeitet. Cambreling dirigierte
auch das erste „Reihe“-Programm: Werke von Anton Webern,
Olga Neuwirth, Tristan Murail und, als Uraufführung, von George
Lopez dessen „Blechbläserquintett“ für Trompete,
Horn, Tenor-Wagnertuba, Posaune, Kontrabasstuba sowie Zuspielband,
das Ganze in fünf Sätzen. Auf dem Zuspielband finden sich
drei Zwischenspiele, die zwischen den anderen Sätzen erklingen:
Lärm von Bauarbeiten an einem Almweg, Naturgeräusche,
Zitate aus einem unveröffentlichten Teil des „Gebirgskriegsprojekts“.
Lopez’ mitunter fast mythisch anmutende Affinität zu
Gebirgslandschaften ist bekannt. Als thematische Orientierung dient
ein wiederkehrendes „Duett“ von Horn und Wagnertuba,
dunkle Assoziationen an das romantische Doppelgänger-Motiv
weckend. Dunkel ist insgesamt der Grundklang des Quintetts, bizarr
oft und grell in der Gestik, wenn sich am Ende ein tänzerisches
Thema aus den Klanggestalten herausschält. Lopez, der selbst
einmal Hornist werden wollte, „rächt“ sich hier
an den nachfolgenden Kollegen, indem er dem Horn fast unüberwindbare
technische Schwierigkeiten in die Ventile hineinkomponierte, so
dass aus dem Quintett in der Uraufführung ein Sextett wurde,
weil sich zwei Horn-Spieler zur Besteigung des aufgetürmten
Technik-Gipfels verbünden mussten. Die gleichwohl beeindruckende
Wiedergabe durch die „Klangforum“-Musiker überspielte
auch den insgesamt etwas disparaten Gesamteindruck, den man vom
knapp halbstündigen Werk gewann.
Was für ein glänzendes, technisch und stilistisch perfektes
Ensemble das „Klangforum“ ist, zeigten die kompetenten
Wiedergaben der anderen Werke. Weberns „Konzert“ für
neun Instrumente op. 24 und seine „Fünf Stücke“
für Orchester op. 10 kann man nicht luzider und zugleich mit
Ton-Energie aufgeladen spielen, Tristan Murails „Désintégrations“
für Tonband und 17 Instrumente nicht dichter und zugleich analytischer
in den prozesshaften Strukturen. Olga Neuwirths „Verfremdung/Entfremdung“
für Flöte, Klavier und Zuspielband (2002) gewinnt im Zusammenwirken
der Klangquellen eine faszinierende Räumlichkeit, und Eva Furrers
Flöte verdichtete alles noch durch die Intensität des
Spiels.